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Archiv-Artikel

Widersinn als Waffe

Das Coming-out war alles andere als poetisch. Das Kommuniqué, mit dem in den ersten Morgenstunden des Jahres 1994 die Häuserwände von San Cristobal de las Casas plakatiert wurden , war eine flammende „Kriegserklärung“, flankiert vom Aufruf, gemeinsam mit den aufständischen Truppen „zur Hauptstadt vorzustoßen“ und den „Diktator zu stürzen“. Dem Ruf mochte bekanntlich niemand folgen. Stattdessen machte sich Staunen breit im Lande, hier und da Bewunderung, vor allem aber Bestürzung. Einen Volks- oder Bürgerkrieg wollte keiner, doch auch die drohende Massakrierung der militärisch eher karg bewaffneten Aufständischen sollte – und konnte – verhindert werden.

Mehr als die martialische Rhetorik war es das erste Wörtchen, das Echos provozierte und im Nu zum Slogan wurde: „Basta“, es reicht. Mit dieser Losung verbreitete sich, zunächst in Mexiko, wie ein Lauffeuer die Genugtuung darüber, dass den Regierenden buchstäblich über Nacht die Diskurshoheit entzogen war. In der Nacht, als das Nafta-Freihandelskommen zwischen Mexiko, USA und Kanada in Kraft trat, war das Gerede vom bevorstehenden Eintritt in den First-World-Club als Geschwätz entlarvt, statt von Lobpreisungen des Freihandels waren die Zeitungen plötzlich voll von Sozialreportagen und Elendsstatistiken.

Für Erstaunen sorgte auch die geradezu professionell wirkende Pressearbeit und Internet-Nutzung, mittels derer schon bald sämtliche Kommuniqués ad hoc und weltweit abrufbar waren und bis heute sind (www.ezln.org). Schnell machte das griffige Etikett der Medien- und Cyberguerilla die Runde. Doch der Medien-Hype verflüchtigte sich bald, auch der Cyberspace dient mehr der Beschleunigung als der Vertiefung des zapatistischen Networking. Die raffinierteste Kommunikationstechnologie war und blieb das – gesprochene und geschriebene – Wort. Denn binnen kürzester Zeit wurde aus der Kriegsrhetorik eine Textstrategie, die mit Paradoxien und Metaphern, Fabeln und Figuren arbeitete und auf die Verfremdung und Unterwanderung hegemonialer Mythologien setzte. Dies war zuallererst die marode Legitimationsmaschine einer „institutionalisierten“ Revolution mit ihrem paradoxen Helden Zapata. Der 1919 ermordeten Bauernführer – Verratener und zugleich Galionsfigur der offiziellen Geschichtsschreibung – wurde nun gegen das marktliberale Credo in Stellung gebracht, dass alles, auch der Boden, käuflich sein müsse. Zudem wurde der Mythos der Rassenharmonie, der mithilfe des staatlichen Indigenismo alles Indigene im Schmelztiegel der Mestizaje eingedampft hatte, als Lebenslüge des postrevolutionären Mexiko demontiert – übrigens auch der Linken, die das „schmutzige Geheimnis Rassismus“, wie der Schriftsteller Carlos Monsiváis selbstkritisch anmerkt, bis dahin recht erfolgreich verdrängt hatte. Schließlich bot der Mythos der „Modernisierung“ mit ihren Floskeln von Demokratie und Zivilgesellschaft zentrale Anknüpfungspunkte – besonders Letztere wurde von den Zapatistas, zum Leidwesen aller Definitionsfetischisten, schlicht zur Bündnispartnerin gegen den autoritären Status quo erkoren.

Dass die EZLN wesentlich zum Niedergang der über siebzigjährigen Quasi-Diktatur der Revolutionär-Institutionellen Regierungspartei PRI beigetragen hat, wird selbst von ihren ärgsten Kritikern nicht bestritten. Was erst 2000 Wirklichkeit wurde, wenn auch ausgerechnet in Gestalt des konservativen Unternehmers Vicente Fox, deutete sich schon 1994 an: Ein anderes Mexiko als das der PRI schien möglich geworden. So war der Wahlslogan von Fox, ein schlichtes Ya!, nicht zufällig eine unmissverständliche Anleihe beim zapatistischen Ya Basta.

„Was sich ein bisschen verändert hat, ist die Haltung“, antwortete Comandante Tacho auf die Reporterfrage nach den zapatistischen „Erfolgen“. Das klingt bescheidener, als es ist. Erklärtes Ziel der Erhebung war weder Sozialpolitik noch Revolution, zumindest nicht im landläufigen Sinne, sondern etwas anderes: „Wir wollen vor allem Respekt. Respekt vor dem, was wir sind“, so Tacho in jenem Interview. „Wir sind Mexikaner. Wir sind Indios.“ Diese Selbstbehauptung meint mehr als nationalistische oder ethnozentristische Identitätspolitik. Beide „Wir sind“-Formeln sind eher strategischer als essenzialistischer Natur: Das Mexikaner-Sein steht gegen Abgespalten-Werden für Teilhabe und Zugehörigkeit, das Indio-Sein für kulturellen Eigensinn. Indem zugleich auf andere Abweichler verwiesen wird, wie Frauen oder Homosexuelle, wird das Credo der Differenz zum Postulat von Diversität – ein grundlegend anderes Konzept als Identität.

Damit ist die Brücke zur nichtmexikanischen und nicht-indigenen Außenwelt geschlagen. In diesem Sinne erweitert auch das Konzept der „Menschenwürde“, dignidad, einen global institutionalisierten Menschenrechtsdiskurs: vom Recht auf Leib und Leben zum Recht auf Achtung und Anerkennung. Um den Kampf gegen Vereinheitlichung geht es auch in der Negativmetapher eines amoralischen „Neoliberalismus“, den die Zapatistas schon 1996 – also lange vor Seattle – auf ihrem „Intergalaktischen Treffen“ in Umlauf bringen. Zwar ist die Kopplung zwischen Ökonomie und Moral seit je problematisch. Und auch der Gegensatz „Neoliberalismus versus Menschheit“, der Marktliberale kurzerhand zu Außerirdischen deklariert, war ein eigentümliches Konstrukt, das nur durch die hübsche Selbstironie des „Intergalaktischen“ etwas gemildert wurde. Und doch war der Intergaláctico erster Stichwortgeber für alle folgenden Versuche, grenzüberschreitende Debatten über „andere Welten“ Räume, Kanäle und Konturen zu verleihen.

Bei alledem sperrt sich die Rede dieser eigenartigen Befreiungsarmee gegen allzu glatte Einverleibung. Es wimmelt von Widersprüchen zwischen nationalistischer und „intergalaktischer“ Rhetorik, zwischen militärischer Disziplin und radikaler Militärkritik, Kollektivität und Dissidenz, Opferdiskurs und Lustprinzip, zwischen Starkult und antiautoritärem Anspruch. Apropos Star: Eine schlichte Neuauflage revolutionärer Pop-Ikonografie ist der Subcomandante Marcos, obwohl so oft behauptet, eben nicht. Eher fungiert der Maskierte als Label oder Markennamen, darin nicht unähnlich einer „Marke“ wie Attac. Denn Marcos ist die leibhaftige Verfremdung einer Guerillero-Figur mit kalkuliertem Incognito, das Verbindungsstück der indigenen zur Kosmovision einer medial verschalteten Moderne, „einer von uns“, wie der weiße Mainstrem unaufhörlich spekuliert. Dem entzieht sich Marcos, indem er die Maskierung zur einzig wahren Identität erklärt. So wird die Maske zum zentralen symbolischen Logo, das Caudillo-Erwartungen – nicht immer erfolgreich – unterlaufen soll und zugleich Requisit einer paradoxen Performance ist: die Sichtbarmachung der indigenen Gesichtslosigkeit. Denn erst ihre Verhüllung weist die Außenwelt darauf hin, dass die Vermummten überhaupt ein unterscheidbares Antlitz haben.

Statt Identifizierung bieten die Zapatistas Identifikation. „Wenn ihr wissen wollt, wer hinter der Maske steckt, schaut in einen Spiegel“, wird Marcos häufig zitiert. Tatsächlich kommt es zu einer Vielzahl von Spiegelungen in aller Welt – linksliberale Intellektuelle und linkslibertäre Autonome, indigene Bewegungen, unabhängige Gewerkschaftler und allerlei „humanitäre“ Organisationen, Feministinnen, Ethno- wie Ökologen, Sozialreformer wie Revolutionäre beziehen sich auf die zapatistische Erhebung. Der Haken dabei: Neue Bilder können in einer spiegelverkehrten Projektion kaum entstehen, jeder sieht das, was seinem Selbst- und Weltbild am ehesten entspricht. So bezeichnet die interaktive Spiegelmaske als sinnbildliche Verknüpfung zwischen den maskierten Aufständischen und ihrem zivilen Gegenüber recht präzise das Dilemma einer Bewegung, die auf Betrachter – also politische Resonanzen – existenziell angewiesen ist.

Denn die eigene Existenz bleibt stets fragil. Ihre Popularität hat die EZLN bis heute nicht in Posten oder Parteigründungen umgesetzt – eine Verweigerung politischer Konventionen, die Realpolitiker jeglicher Couleur regelmäßig verstört. Quer zu den politischen Lagern ähneln sich die Einwände: Regierungsnahe Realos, oppositionelle Reformer und auch mache Linksradikale bezichtigen den Zapatismo nahezu unisono des Romantizismus und der Irrationalität, der Theatralität und Geschwätzigkeit – jedenfalls fern aller „echten Politik“, sei es nun in Gestalt von Institutionen, Parteien oder Klassenkampf. Tatsächlich werden diese Rituale des Politischen von den Zapatistas abgelehnt. Was genau – neben dem Credo einer radikalen Basisdemokratie – an ihre Stelle tritt, bleibt offen. Als „Zauberformel, um das Unaussprechliche auszudrücken“, bezeichnete ein Pariser Anarchist einmal den Kern der zapatistischen Attraktion: strategische Leere statt reiner Lehren.

Seit einiger Zeit, vor allem aber seit dem Machtwechsel 2000, setzen die Zapatistas immer ausschließlicher auf die ethnische Karte. Das ist ebenso riskant wie erklärlich: Nachdem die „Demokratie“ als Mantra der Mobilisierung gegen die PRI wegfällt, das politische Establishment die anstehende Verfassungsreform versagt hat, bleibt als verlässlichste Basis offenbar die so genannte indigene Frage. Dafür steht auch die neueste Metapher aus dem zapatistischen Repertoire, die Caracoles, die Schneckenmuscheln, als Bezeichnung regionaler Koordinationsstellen für die derzeit 30 „autonomen Gemeinden“. Spielte die frühere Bezeichnung der regionalen Versammlungszentren, Aguascalientes, noch auf die revolutionäre Nationalgeschichte an, so wird diese nun durch ein rein indigenes Symbol abgelöst. Die Schneckenspirale ist ambivalent angelegt, sie führt nach den Worten von Marcos „in das Herz hinein, wie die Allerersten das Wissen genannt haben“, und zugleich „aus dem Herz hinaus, in die Welt, wie die Allerersten das Leben genannt haben“. Welche dieser beiden Richtungen die Oberhand gewinnt, die geschlossene oder die weltoffene, bleibt abzuwarten. Eine Verengung nach innen käme einer fatalen Normalisierung der klandestinen Logik gleich, der Metamorphose in abgeschottete Widerstandsdörfer. Wenn aber das Überleben des Zapatismo vorwiegend von militärischen Strukturen und dem Ringen um materielle Versorgung bestimmt ist, dann hat auch die offensive Wort- hinter einer defensiven Waffenergreifung zurückzutreten, an die Stelle der Brückenschlägen würden Grenzziehungen treten, die Aufstandsbewegung würde berechenbarer.

Diskursguerilla meinte etwas gänzlich anderes: der Widersinn als Waffe, das Eindringen hinter die gegnerischen Diskursfronten, der Angriff an unerwarteten Orten und die Nutzung der Paradoxie als diskursive (also politische) Produktivkraft: Masken tragen, um als Indigene erst sichtbar zu werden, aus entlegenen Dschungelgebieten „intergalaktische“ Treffen einberufen, als Untergrundbewegung Briefe an die „Señora Zivilgesellschaft“ verfassen, Shakespeare und Lewis Carrol zitieren. „Du gebrauchst ‚Alice im Wunderland‘, wie der Che die Guerilla-Erfahrungen des Ho Chi Minh benutzen konnte“, sagte der kürzlich verstorbene Literat Manuel Vázquez Montalbán einmal im Gespräch mit Marcos.

Wie auch immer die Geschichte der paar tausend Männer und Frauen weitergeht, die seit zwanzig Jahren in den Bergen des mexikanischen Südostens hausen, eines ist ihnen ganz zweifellos gelungen: zu zeigen, dass diskursive Gewalt – etwa die Mär vom Ende aller Geschichte – porös ist und dass scheinbar übermächtige Gegner samt ihrer Legitimationsmaschinen symbolisch angreifbar sind. Gegen das immer wiederkehrende Missverständnis des Nur-Symbolischen als Gegensatz zu aller echten Politik sind sie ein leibhaftiger Beleg dafür, dass Diskurspolitik eine sehr handfeste Angelegenheit ist – und dass „diskursive Praktiken“ zuweilen sogar lebenserhaltend sind.