: Mein Leben als Quotenostfrau
Die meisten Probleme in Deutschland sind längst gesamtdeutsch – dennoch muss sich wieder jeder, der sich in der Kulturszene der Hauptstadt um einen Posten bewirbt, nach seiner Herkunft befragen lassen. Ost und West bleiben im Kopf. Wieso bloß?
VON ANNETT GRÖSCHNER
„Ich würde ja liebend gerne diese Geschichten vergessen, aber sie verfolgten mich schon vor meiner Geburt“, könnte ich mit einer meiner Protagonistinnen sagen. Zur Ostdeutschen gemacht wurde ich erst am 9. November 1989. Vorher hielt ich mich für eine Individualistin, die kein Interesse daran hatte, in den Westen zu gehen. Plötzlich steckte ich in einem Sack zusammen mit Volkspolizisten, Pionierleiterinnen, HO-Verkäuferinnen und Genossenschaftsbauern. Der Sack wurde dann oben zugebunden, und seitdem versuchen wir, durch irgendwelche Löcher, den regulären Ausgang oder Schleichwege wieder ins Freie zu kommen.
Ich habe mich und die anderen 15 Jahre lang bei diesen Bewegungen beobachtet. Manche haben aufgegeben, andere sind längst weg. Ich würde jetzt den Sack gerne verlassen und mich anderen Themen widmen, beispielsweise den Strukturproblemen in Südwestdeutschland, dem öffentlichen Transportwesen in Buenos Aires oder der Geschichte des westdeutschen Terrorismus. Meine Erfahrungen als Ostdeutsche decken sich da mit meiner Erfahrung als Frau. Als Autorin wollte ich mich irgendwann auch nicht mehr mit klassischen Frauenthemen beschäftigen. Mich interessieren Menstruationsprobleme nicht. Ich hasse auch die Rolle einer Quotenostfrau, die behandelt wird wie eine Kranke. Ich habe über Fußball, Verbrechen, Kältetechnik und Atomkraftwerke geschrieben und mich damit zwischen allen Stühlen eingerichtet.
Als ich vor 14 Jahren entgegen meinen damaligen Wünschen Bürgerin der Bundesrepublik wurde, habe ich als Erstes das Grundgesetz und das Bürgerliche Gesetzbuch gelesen. Mit dem Grundgesetz konnte ich leben, das Bürgerliche Gesetzbuch empfand ich als grauenhaft rückständig. Am liebsten wäre ich aus Protest wieder ausgetreten. Es gab 1990 noch 120 Jahre alte Paragrafen, wie § 1300, der der „unbescholtenen Verlobten“, die „ihrem Verlobten die Beiwohnung gestattet“ und dann verlassen wird, „eine billige Entschädigung in Geld“ zu verlangen erlaubte. Meine Westfreunde zuckten die Achseln und sagten, na und, wird sowieso nicht angewandt, lasen ihrerseits aber genüsslich aus Verlautbarungen des SED-Zentralkomitees von 1959 vor, so als hätten die 1989 noch Gültigkeit gehabt.
Inzwischen ist der Verlobungsparagraf dank der liberalen Politikerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger nicht mehr existent, die Ehe- und Familienpolitik aber ist grundsätzlich rückständig geblieben. Die ersten Jahre wurden Ostfrauen immer hart angegriffen, weil sie ihre Berufsbezeichnungen in der männlichen Form aussprachen; viele Feministinnen westlicher Provenienz hatten aber gar kein Problem damit, dass die meisten Mütter mindestens sechs Jahre mit ihren Kindern zu Hause blieben und danach ihren Beruf samt weiblicher Form überhaupt nicht mehr ausüben konnten. Manche Mütter kamen mir vor wie Einzeller, die bei der Fortpflanzung absterben. Inzwischen gilt das Kinderbetreuungssystem des Ostens, dessen Abschaffung östlich der Elbe an den Eltern scheiterte, laut jüngster OECD-Studie als vorbildlich. Übernommen hat es der Westen freilich damit noch lange nicht.
Auch dass sich das Schulsystem nach Aschenbrödelprinzip (die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen) besonders für Kinder aus benachteiligten Familien nicht bewährt, hat sich erst dank Pisa herausgestellt. Manchmal muss man eben Umwege über Finnland in Kauf nehmen. Auch Ostfrauen sprechen inzwischen von sich als Lehrerinnen oder Zahnärztinnen. BMSR-Technikerinnen gibt es eh nicht mehr. Sie sagen auch: „Ich bin Arbeitslose“ oder: „Ab Januar bin ich nach Harz IV nicht mehr versichert, vielleicht sollte ich mich von meinem Freund trennen. Vom Staat zwangsverheiraten lass ich mich jedenfalls nicht.“
Die Bundesrepublik würde heute anders dastehen, hätte sie nicht 1989 ihre hässliche Schwester angeguckt und sich selbst unendlich schön gefunden. Dass sie in ihrer alten Form nur in der Dialektik mit der DDR so existieren konnte, wird selten thematisiert. Sie wird immer mehr zum schönen Mythos. Alles war an seinem Platz – vor allem die Ausländer und die Ostdeutschen.
Die meisten Probleme sind inzwischen gesamtdeutsch. Zunehmend werden auch Gegenden der alten Bundesrepublik von Schrumpfung betroffen sein, klassische Firmenkonsortien brechen zusammen, die Zahl der von Hartz IV Belästigten wird auch im Süden zunehmen. Der Osten ist da nur Avantgarde.
1989 haben sich für Ostdeutsche die räumlichen und zeitlichen Koordinaten geändert. Der lange Nachkrieg war nun vorbei, die Uhren gingen schneller. Es gab Gewinne und es gab Verluste. Sie waren ungleich verteilt, vor allem zwischen den Generationen. Ein Dreißigjähriger hat mehr von der Wende profitiert als ein Fünfzigjähriger, ein heute dreißigjähriges Mitglied einer DDR-Elitefamilie eher als ein gleichaltriges Kind eines Durchschnittsbürgers.
Ich könnte inzwischen auch eine Reihenhauskindheit in Niedersachsen simulieren. Manche meiner Altersgenossen mit DDR-Sozialisation haben sich ganz pragmatisch für diese Verwandlung entschieden, entweder weil sie sich ihrer Herkunft schämten oder der Herabsetzungen, die im täglichen Leben damit verbunden waren, überdrüssig waren. Aus Kindheiten in anhaltischen Dörfern wurden solche in der Nähe von Braunschweig. Hatte nicht einer der taz-Kollegen am Morgen des 8. November, als ausschließlich Ostdeutsche die tageszeitung produzierten, den seit Mitte der Achtzigerjahre bei der taz beschäftigten und ursprünglich aus dem Osten ausgereisten Layouter mit dem Satz begrüßt: „Deine Artgenossen warten schon“? Wahrscheinlich war das lustig gemeint.
Die Herkunft bleibt im Kopf. Stolz muss man nicht darauf sein, sie hat nur einen Vorteil – wir wissen, wie schnell ein Staat mitsamt der Gesellschaft implodieren kann. Mehr ostdeutsche Chefredakteure, Intendanten, Bankdirektoren und Rektoren, ob nun weiblich oder männlich, gibt es deswegen noch lange nicht und wird es in naher Zukunft auch nicht geben, weil es keine Lobby gibt. Selbst ein ostdeutscher Diskurs findet nicht mehr statt. Andererseits ist meine Antwort auf die Frage, ob es mich noch interessiert, nur unter Ostdeutschen zu arbeiten, ein klares Nein. Dazu habe ich die ersten Jahre nach dem Fall der Mauer, als junge Leute aus aller Welt sich in den Gründerzeitvierteln Ostberlins niederließen, viel zu sehr genossen. Eigentum spielte keine Rolle, Erfolg auch nicht, Neid war marginal. Alle waren auf der Suche.
In Berlin haben sich viele Unterschiede inzwischen verwischt, der zwischen Arm und Reich hat den zwischen Ost oder West oder Westberlin längst abgelöst. Die meisten derer, die heute für den Palast der Republik kämpfen, sind zu DDR-Zeiten nie darin gewesen, weil sie nie in der DDR waren. Es gibt seit Anfang der Neunzigerjahre einen Diskurs, vor allem in der Kultur, der gesamtdeutsch und unideologisch ist und der sich um Ost- und Westbegrenzungen nicht schert. Ihm wird von den alten Grabenkämpfern mitunter Neoliberalismus vorgeworfen.
Interessant, dass mit der Berufung des ostdeutschen Schriftstellers Christoph Hein als Intendant des Deutschen Theaters im Sommer dieses Jahres der kulturelle Ost-West-Graben mühsam wieder ausgehoben wird. Für die Neue Zürcher Zeitung ist dieser neue Kulturkampf, der schon mit dem zwischen Katholizismus und Protestantismus im Berlin des 19. Jahrhunderts verglichen wurde, eine typische Berliner Provinzposse, vor Ort wird er überaus ernst genommen. Gegner sind ein ostdeutscher Kultursenator, der sich durch die Berliner Politik bewegt wie ein Indianer auf Kriegspfad, und eine grüne Kulturtante, die hinter jedem ostdeutschen Kulturschaffenden ein U-Boot im Namen des sozialistischen Realismus vermutet. Inzwischen muss sich wieder jeder, der sich in der Berliner Kultur um einen Posten bewirbt, nach seiner Herkunft befragen lassen.
Einer von ihnen ist der Regisseur Sascha Bunge, der zusammen mit Kay Wuschek und Karola Marsch 2005 das Carrousel- Theater für Kinder und Jugendliche in Berlin übernehmen wird. Er ist viele Jahre lang im Westen von Theater zu Theater getingelt. „In Pforzheim interessiert niemanden die DDR und auch nicht das, was danach kam. Das ist auch ganz heilsam“, sagt der 1969 in Ostberlin geborene und aufgewachsene Regisseur, „hier in Berlin ist das wichtiger als das Konzept, was man mitbringt.“ Uns trennen fünf Jahre, entscheidende Jahre, denn es war ein Unterschied, ob man 1989 20 oder 25 war. Er verbindet keine Verlustgeschichte mit der DDR. „Trotzdem gibt es Wurzeln. Meine Freunde habe ich schon zwanzig Jahre, und Franz Fühmann und Heiner Müller liegen mir näher als Martin Walser und Botho Strauß.“
Im Moment arbeiten wir an der Stückfassung meines Romans „Moskauer Eis“, der 1991 spielt und sich mit der Geschichte einer Familie von Kälteingenieuren beschäftigt, von denen einer sich nach der Wende einfriert. Wir müssen entscheiden, wie viel DDR auf die Bühne kommen soll: so wenig wie möglich und so viel wie nötig. Und keine Folklore. „Glaube II: … Und der Zukunft zugewandt“ heißt die Reihe am Maxim Gorki Theater, in der das Stück seine Uraufführung haben wird. Die DDR kommt dort, was Glaube angeht, gleich nach der Bibel. Den Kultursenator, so haben es Zeitungen kolportiert, soll der Titel nicht amüsiert haben. Uns schon. Aber der Kultursenator ist ja auch mehr als zehn Jahre älter als wir.