: Schlucken bis zum Schluss
Durch Modifikation der Rauschgene werden nicht nur Würmer trinkfest
Der alljährliche Krach von Silvesterböllern erinnert mich immer wieder an meinen Chemielehrer, Herrn Doktor Fritz Kußmaul. Ein Haudegen vom alten Schlag, dessen Stärke es war, mit eindrucksvollen Versuchen, die Lust am Fach ein für allemal zu versauen oder aber gewaltig zu fördern. So demonstrierte er zum Beispiel die verheerende Wirkung von Nitroglyzerin, indem er einen winzigen Tropfen davon aus dem Chemiesaal im dritten Stock des Schulgebäudes auf den Schulhof fallen ließ. Die verstörten Gesichter kommentierte er lediglich mit einem „So, jetzt wisst ihr Bescheid.“
Aber die größeren Knaller waren seine Experimente mit Alkohol. Um auf schädliche Wirkungen von Alkohol hinzuweisen, wartete Kußmaul stets auf Regentage, füllte dann ein Glas mit Wasser, ein anderes mit sauber gebranntem Wodka und gab in jedes einen prachtvollen Regenwurm dazu. Die Würmer hatte er auf seinem Weg zur Schule eingesammelt. Der Wurm im Wasser war für lange Zeit quietschfidel, während sein Artgenosse im Wodka mit seinen unkoordinierten und torkelnden Schwimmbewegungen für Heiterkeit sorgte, bis er schließlich vor seinem sicheren Tod gerettet werden musste. (Die gemäß einem alt Witz etwas irrige Schlussfolgerung, Alkohol wäre ein gutes Mittel gegen Wurmbefall, sei nicht weiter ausgeführt und ist deshalb lediglich in Klammern gesetzt.) Ob es dem Wurm nach seinem Wodkabad ähnlich schlecht erging wie uns während des Katers nach dem Genuss einer Flasche Rackerauschzart, ist mir leider nicht mehr in Erinnerung.
Heute, Jahrzehnte später, erfreut sich Doktor Kußmaul seiner wohlverdienten Pension. Sein Sohn Fredy blieb dem Metier des Vaters treu. Er lehrt Biochemie, forscht Genetik und führt einen ähnlichen Versuch in gerammelt vollen Hörsälen der Universität vor. Allerdings gingen dreißig Jahre weder an Forschern noch an Würmern vorbei, und so sammelt Kußmaul junior an feuchten Tagen keine Regenwürmer mehr. Für seine Experimente wählt er wohldefinierte Fadenwürmer, auch als Nematoden bekannt. Allerdings nicht jene wilde Sorte, die sich immer wieder auf unappetitlicher Weise in Heringen breit macht, sondern jene, deren genetische Information mit der unsrigen, allzu menschlichen, an vielen Stellen eher übereinstimmt. Diese Gesellen hören auf den anmutigen Namen Caenorhabditis elegans.
Vor dem Rauschexperiment greift Kußmaul junior mit biochemischen Skalpellen ein und verändert ein einziges Gen mit der Fachbezeichnung „slo-1“ aus deren Erbgut. Was zur Folge hat, dass sich diese modifizierten Würmer von uns Menschen, zumindest genetisch, an einer wesentlichen Stelle völlig unterscheiden. Die Folge ist verblüffend: Diese genveränderten Vertreter schwimmen höchst vergnügt und völlig nüchtern im Alkohol. Was nicht nur daran zu erkennen ist, dass die Viecher im hochprozentigen Schnaps weder herumtollen noch schräg dreinschauen. Kater scheinen sie übrigens auch keinen zu entwickeln. Woher Professor Kußmaul das alles weiß?
Ganz einfach, aus einem neuen Zellbiologiebuch, Kapitel „Nervenleitung“: Dieses ominöse „slo-1“-Gen trägt die relevanten Informationen für einen Ionenkanal, durch den Kaliumionen aus den Nervenzellen fließen. Sind einige Rezeptoren durch Alkoholmoleküle besetzt, öffnet sich dieser Kanal häufiger, was die Nervenaktivität verlangsamt und damit einen Betrunkenen torkeln und lallen lässt. Das geflügelte Wort, ein Saufkopf habe den Kanal ordentlich voll, bekommt dadurch sogar seine molekularbiologische Rechtfertigung. Bleiben also diese Kanäle durch die Modifikation des Gens immer verschlossen, können die Würmer Alkohol schlucken, ohne die typischen Symptome der Trunkenheit zu zeigen.
Und was folgern wir daraus, besonders in diesen Tagen, für unser tägliches Leben? Solange wir unser Rauschgen nicht aus diesen Angelegenheiten heraushalten können, geht’s uns ähnlich elend wurmig wie Vater Kußmauls Gattung nach ihrem unfreiwilligen Ausflug ins Alkoholbad. So bleibt uns am day after nur der Griff zum Glas mit sauren Rollmöpsen und Gürkchen. THOMAS VILGIS