Die Liebe und der Tausch
Wie sieht die Zukunft des Sexuellen aus? Werden alle Beziehungen Tauschbeziehungen sein? Überlegungen zur Zukunft des sexuellen Mainstreams in Zeiten von Verhandlungsmoral und gleichberechtigten Partnerschaften einerseits, Pornografisierung und globalisierter Prostitution andererseits
von GÜNTER AMENDT
Der Widerstand rechtspopulistischer und klerikaler Kreise gegen die neue Sexualmoral der Sechzigerjahre, die auf der prinzipiellen Gleichberechtigung von Mann und Frau und Frau und Mann beruht und im Übrigen auf Reglementierungen und moralische Dogmen verzichtet, ist ungebrochen. Trotzdem kann man heute davon ausgehen, dass die Quintessenz dieser neuen Sexualmoral – alles ist erlaubt, was, ohne Dritte zu schädigen, in wechselseitigem Einverständnis geschieht – gesellschaftlich weitgehend akzeptiert ist. Vor allem Jugendliche der Mittelschichten haben, wie seuxalwissenschaftliche Untersuchungen eindrücklich belegen, die Standards der neuen Moral übernommen und in ihr Sexualverhalten integriert. Was im Sexuellen gewollt wird und erwünscht ist, entscheiden heute beide – Junge und Mädchen, Frau und Mann. Verhandlungsmoral eben.
Inwieweit die heute allgemein beklagte und in vielen sexualwissenschaftlichen Untersuchungen auch belegte „Lustlosigkeit“ oder „nachlassende sexuelle Appetenz“ in einem Zusammenhang steht mit der neuen Verhandlungsmoral, die dem Sexuellen das Leidenschaftliche und Spontane genommen habe, wie ihre KritikerInnen reklamieren, ist schwer zu beantworten. Ein Zusammenhang ist jedenfalls nicht auszuschließen. Das wachsende Selbstbewusstsein junger Frauen und die zunehmende Verunsicherung junger Männer wirken sich zwangsläufig auf die Geschlechterbeziehungen aus. Wie könnte es anders sein?
Vor allem männliche Jugendliche erleben das Sexuelle heute nicht mehr als so drängend und triebhaft. Auch dies belegen die Untersuchungen zur Jugendsexualität des Hamburger Instituts für Sexualforschung. Masturbation wird heute von der Mehrzahl aller Jugendlichen und Erwachsenen als eine selbstverständliche Sexualpraxis betrachtet, akzeptiert und in die Beziehung, soweit eine solche existiert, integriert.
Erstaunlich wenig weiß man über die Rolle der Pornografie in diesem Zusammenhang. Wäre ich noch als Sexualwissenschaftler tätig und stünden mir ausreichend Forschungsmittel zur Verfügung, dann würde ich wohl der Frage nachgehen, was die Pornografisierung des öffentlichen Raums in der Psyche von Heranwachsenden eigentlich auslöst und anrichtet. Welche Bilder laufen in ihnen ab, was empfinden sie, wenn ihnen Frauen im Fernsehen ihre Brüste entgegenstrecken und sich in grotesken Bewegungen darbieten? Was bewirkt der im deutschen Fernsehen übliche Hinweis: „Die folgende Sendung ist für Jugendliche unter 16 Jahren nicht geeignet“? Wird das, wie Harald Schmidt vermutet, als Aufforderung verstanden, schon mal die Hose aufzumachen? Wird das Sexuelle durch die permanente Anwesenheit und Verfügbarkeit sexueller Stimuli entwertet? Banalisiert? Die Sexualwissenschaften geben auf diese Fragen keine oder nur unbefriedigende Antwort.
In einem im Juni 2003 veröffentlichten Aufsatz macht sich auch der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch Gedanken „Über das Sexualleben der Jugend“ von heute. „Im Nachkriegsdeutschland ist noch keiner nachgewachsenen Generation so schonungslos bedeutet worden, dass sie zu großen Teilen weder kulturell noch gesellschaftlich benötigt wird.“ Diese Feststellung trifft – mehr oder weniger – auf die Jugend in allen europäischen Gesellschaften zu. „Das Merkwürdige aber ist: Unsere Gesellschaft frönt dem Fetisch Jugendlichkeit, doch die Jugend selbst wird missachtet, ist eine beinahe vergessene Generation. Wirklich ernst genommen und umworben werden Jugendliche nur als Konsumenten.“ Zugespitzter lassen sich die Unterschiede von damals zu heute kaum beschreiben. Mit Blick auf das Sexuelle stellt Sigusch fest, dass anders als damals die Sexualität heute nicht mehr „die große Metapher der Lust und des Glücks“ ist: „Sie wird nicht mehr positiv mystifiziert als Rausch, Ekstase und Transgression, sondern negativ als Quelle und Tatort von Unfreiheit, Ungleichheit, Gewalt, Missbrauch und tödlicher Infektion.“ Kein Wunder also, mag man sagen, dass die empirische Forschung herausgefunden hat, dass der erste Koitus heute statistisch später stattfindet und dass junge Menschen insgesamt weniger Geschlechtsverkehr haben als Vergleichsgruppen früher.
Andererseits: Nirgendwo ist die Koitusfrequenz festgeschrieben. Was ist die Norm? Gibt es überhaupt eine Norm? Soll man sich an der Martin Luther zugeschriebenen Regel „In der Woche Stücke zwier schaden weder mir noch dir“ orientieren? Oder ist das bereits zu hoch gegriffen?
Liegt die mit der Länge der Beziehung nachlassende sexuelle Begierde nicht in der Natur jener „individuellen Geschlechtsliebe“ und der aus ihr abgeleiteten monogamen Paarbeziehung, auf der das Liebesideal des neuzeitlichen Menschen nach wie vor beruht? Hat nicht Friedrich Schiller bereits zu Beginn des bürgerlichen Zeitalters die Psychodynamik der Paarbeziehung präzise beschrieben:
Die Leidenschaft flieht/ Die Liebe muss bleiben/ Die Blume verblüht/ Die Frucht muss treiben.
Wer Schillers „Glocke“ als sozialhistorisches Dokument liest, erspart sich eine Magisterarbeit von der Art „Zur Sozial- und Sittengeschichte des bürgerlichen Zeitalters von seinen Anfängen bis heute“.
Wie sieht die Zukunft des Sexuellen aus? In welche Richtung wird sich der sexualmoralische Mainstream bewegen? Wird sich das romantische Liebesideal von Treue und Verbindlichkeit, an dem sich die Mehrheit aller von Forschern befragten Jugendlichen bis heute orientiert, behaupten können? Wird der Treuebruch moralisch durch Trennung sanktioniert oder in die „Stammesbeziehung“ integriert werden? Oder wird sich eine Sexualmoral durchsetzen, die den Sexualakt von dem, was wir „Liebe“ nennen, abkoppeln wird?
Gibt es einen inneren Zusammenhang zwischen der neuen Verhandlungsmoral und der – trotz Aids – fortwährenden Beanspruchung der Prostitution? Die Vermutung liegt nahe, denn viele, vor allem ältere Männer erklären offen, dass sie nicht bereit sind, sich den neuen Spielregeln anzupassen. Auf der Suche nach willigen und unterwürfigen Frauen haben sich viele Männer aufgemacht in andere Kulturen, wo sie aufgrund ihrer Kaufkraft die Spielregeln bestimmen können. Mit dem Sextourismus wurde die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Kindern globalisiert.
In den Siebzigerjahren begann sich auch der Blick auf die „käufliche Liebe“ zu verändern. Man sprach von der Prostitution als einem normalen Frauenberuf. Nun ist der Strich oder das Bordell zweifellos ein Frauenarbeitsplatz. Deshalb haben Frauen, die sich prostituieren, Anspruch auf einen arbeits- und versicherungsrechtlichen Schutz. Das Gerede von der Prostitution als „normalem Frauenberuf“ aber war eine feministische Provokation, die über das Ziel hinausschießen musste, um wahrgenommen zu werden. Denn Prostitution ist eben mehr als nur eine Metapher für sexuelle Ausbeutung und Abhängigkeit. Es mag ja Frauen geben, die in der Luxusprostitution eine Chance sehen, sich Konsumwünsche zu erfüllen. Von ihrem Leben auf jenes der Straßen- oder Bordellprostituierten zu schließen, verzerrt die Realität und läuft auf eine Verharmlosung der Prostitution hinaus. Mittlerweile hat sich der Frauen- und Mädchenhandel zu einer der profitträchtigsten Sparten des organisierten Verbrechens entwickelt. Dass es auch eine Nachfrage nach Callboys gibt und im Sextourismus auch Frauen mitbieten, soll nicht verschwiegen werden. Diese Nachfrage ist jedoch bezogen auf das Gesamtvolumen vernachlässigbar.
Wenn man die sexuellen Verhältnisse als Spiegelung der allgemeinen sozialen Verhältnisse begreift, dann ist eine Entwicklung denkbar, die mit den moralischen Standards von heute nur noch wenig zu tun hat. Im moralischen System des modernen, flexiblen, mobilen und globalen Menschen wird kein Platz mehr sein für Moralismus. Mit der Deregulierung der ökonomischen Verhältnisse kommt es zwangsläufig auch zu einer Deregulierung der sozialen Verhältnisse und damit auch der sozialen Beziehungen. Alle Regeln und Gebote, die den Warenfluss behindern könnten, werden im Verlaufe dieses Prozesses aufgehoben werden. Am Ende werden dann alle Beziehungen nur noch Tauschbeziehungen sein. Dabei wird auch die Grenze zwischen der „reinen“ und der käuflichen Liebe verwischt werden, denn wer bereit ist, alle Beziehungen als Tauschbeziehungen zu begreifen, wird auch bereit sein, das Sexuelle als Dienstleistung zu akzeptieren. Moralisch verwerflich ist dann nicht die Tatsache, dass jemand für Sex Geld gibt oder nimmt. Moralisch verwerflich ist vielmehr, wenn die sexuelle Dienstleistung nicht angemessen honoriert wird beziehungsweise wenn die sexuelle Dienstleistung nicht dem vereinbarten Preis entspricht.
Im Sextourismus lässt sich die schleichende moralische Umwertung der Prostitution gut beobachten. Selbstverständlich gibt es auch hier den typischen Bordellgänger, der nüchtern kalkuliert, in Thailand oder Kenia für dasselbe Geld doppelt und dreifach zu bekommen, was er auf der Langstraße oder im Niederdorf erhält. Ob die Hure als Sklavin gehalten wird und sich aus krasser Not und Verzweiflung verkauft, interessiert ihn nicht – weder zu Hause noch in der Fremde.
In Thailand und auf Kuba habe ich jedoch Beziehungen zwischen einheimischen und Fremden beobachten können, die sich sichtbar unterschieden von dem, was ich im Umfeld von Eros-Centern und Straßenstrich gesehen habe. Die für die Dauer des Aufenthaltes monogame Beziehung wird, wie Studien belegen, von vielen beteiligten Frauen nicht als Prostitution erlebt und von ihren – wie soll man sagen? – Freiern? Lovern? Begleitern? auch nicht. Alle Beteiligten, die Einheimische wie der Fremde, nehmen das ökonomische und soziale Gefälle zwischen dem „Paar auf Zeit“ als eine unveränderbare Realität zur Kenntnis. Die Verhältnisse werden, so wie sie sind, akzeptiert und ausgeglichen durch mehr oder weniger großzügige Donationen. Für die kurze Dauer der sexuellen Beziehung nimmt die Frau am Luxusleben des Touristen teil. Sie reist, sie besucht Clubs und Diskotheken, sie wird zum Essen ausgeführt und mit (für sie) luxuriösen Konsumgütern beschenkt. Oft fließt nicht ein Dollar Bares.
Ich will nicht verhehlen, dass ich aus einer Denktradition komme, die den hier beschriebenen bargeldlosen Verkehr als Verschleierung der tatsächlichen Machtverhältnisse sieht und Ausbeutung nennt. Was ich jedoch sagen will, wenn ich über die Zukunft des Sexuellen nachdenke und erkennbare Trends interpretiere: Es wird eine Zeit kommen, in der diese Art von Beziehung von einem erheblichen Teil der Bevölkerung als moralisch einwandfrei und legitim betrachtet werden wird. Das liegt in der Logik des postindustriellen Zeitalters, dessen Anfänge wir gerade erleben, denn es entspricht dem Individualitätsmuster des modernen – meinetwegen auch postmodernen – Menschen. Das kann man gut finden oder schlecht, es wird so kommen.
Selbstverständlich werden auch zukünftig Menschen auf der Suche nach der „reinen Liebe“ oder der reinen Beziehung sein. Diese „reine“ Beziehung wird im Sinne der Verhandlungsmoral nur „moralisch“ sein, solange gleich starke, also ökonomisch, emotional oder sonst wie nicht erpressbare Partner beteiligt sind. Die reine Beziehung ist, wie Gunter Schmidt schreibt, „nur bei solchen Paaren ‚rein‘, die an Macht sich gleich sind“.
Wir werden uns darauf einzustellen haben, dass es in Zukunft die eine für alle gültige Moral, wie sie etwa von der katholischen Kirche vertreten und gefordert wird, noch weniger geben wird als heute schon. Das ist gut so, denn diese Art von moralischem Denken ist totalitär.
Ich bezweifle aber, dass mir immer gefallen wird, was uns die neuen, vielfältigen und oft konträren Moralvorstellungen der Zukunft bescheren werden.