: Knaller des Jahres
Ein Jahr geht, die Knaller bleiben. 2003 war kein besonderes Jahr für NRW und das Ruhrgebiet. Kaum Wahlen, ein paar Abgänge, viel Gerede über Zukunft, Strukturfragen. Wenig wurde entschieden. Die Arbeitslosigkeit bleibt, die soziale Schere klafft, die Emscherregion geht den Bach runter. Aber dafür gab es viel zu lachen. Über Züge, die schweben sollten und als S-Bahn enden. Über Flughäfen, die plötzlich ins Licht der Öffentlichkeit gerieten, dabei ist die Loemühle auch so schon ein Politikum im Kreise Recklinghausen. Über einen Terroristen, der auf Bierkisten rastet und auf den Kopf gefallen ist. Und nicht zuletzt: Über ganz viel Ruhrpottkitsch in Film und Fernsehen, das Revier der Wunder. Schade nur, dass die 1950er Jahre schon vorbei sind. Oder?
Die unsanfte Landebahn
Eigentlich gab es immer Streit ums Flugfeld am Naturschutzgebiet „Die Burg“. Der Kreistag stritt sich mit Stadträten, ob der Flughafen Loemühle geschlossen oder erweitert werde.Der KVR wurde verdächtigt, sein Naturschutzgebiet zu opfern. Der Betreiber warb mit Sponsoren, die mit dem Platz gar nichts zu tun haben wollten. Ein kleine Startbahn am Rande der Ruhrstadt.
Doch dann kam ein Mann, dessen Schicksal sich mit dem Flughafen verband. Am 5. Juni dieses Jahres war alles anders: Der Flughafen wurde nach Möllemanns letztem Sprung endlich einfach einmal geschlossen. KOK
Die Schnellbahn
Er war der Hoffnungsträger der nordrhein-westfälischen Verkehrspolitik: Der Metrorapid.Mit dem Prestigeprojekt wollte die SPD NRW aus dem Dauerstau führen – dringend nötig bei Zuwachszahlen von bis zu 30 Prozent beim PKW-Verkehr.
Nachteil: Die Kosten. Mindestens fünf Milliarden Mark sollte der schwebende Superzug kosten und doch nur fünf Minuten zwischen Dortmund und Düsseldorf einsparen. Ex-MP Clement brüllte Kritiker trotzdem gnadenlos nieder. Allein die Planung der Nullnummer verschlang 50 Millionen Euro.
Der neue NRW-Chef Peer Steinbrück kehrte von einer China-Reise mit dem Metrorapid-Virus nach Düsseldorf zurück, setzte alles auf den Superzug – und verlor. Mit der Koalitionskrise kam am 27. Juni das Aus – angeblich wegen mangelnder Unterstützung durch Bahn und Bund. Im chinesischen Shanghai fährt das Ding seit vorgestern. WYP
Die müden Brieftauben
Ein schlimmes Jahr für das Rennpferd des kleinen Mannes: Ende April brach in Holland die Geflügelpest aus. Millionen von Hühnern wurden getötet und auch der fliegende Taubenvogel hatte zu leiden. Über mehrere Wochen verhängte die Landesregierung ein Flugverbot über die Brieftauben, Reisevereinigungen ließen ihre Laster in der Garage. Umweltministerin Bärbel Höhn sagte damals, dem „Hobby stehe die Existenz der gewerblichen Geflügelhalter gegenüber“. Taubenvatta haben auch so die Pest am Bein: große Nachwuchssorgen, der Flugsport wird immer aufwändiger und auf die Taubenmesse in den Dortmunder Westfalenhallen kommen statt erwarteteten 40.000 Besuchern gleich zehntausend weniger. Trost bietet den Züchtern nur das Schaugeschäft: „Das Wunder von Bern“ zeigt Luftratten, die die Heimat mit Fußballergebnissen versorgen. Und Boxlegende Mike Tyson outet sich als Taubenzüchter: „In Deutschland gibt es ganz wunderbare Brieftauben“, sagte der Wüterich. CSC
Die Weltmeisterin
Auf dem Höhepunkt Schluss machen ist eine Kunst. Schon vor der Frauen-Fußball-WM kündigte sie ihren Rücktritt für danach an. Maren Meinert hatte eine Vorahnung: Durch das Golden-Goal hätte eigentlich der große Boom kommen sollen. Geboomt haben dann nur die Einschaltquoten. Die Spiele der Frauen-Bundesliga finden immer noch vor ein paar hundert Zuschauern statt. Maren Meinert kann‘s egal sein. Sie trainiert halbtags bei der SG Essen-Schönebeck und plant eine Fußballschule für Mädchen. Auch schön. HOP
Das Wunder
Wundersames Ruhrgebiet. Das Wunder von Bern kam ein Jahr zu früh – in die Kinos. 2004 jährt sich der identitätzurückbringende WM-Triumph zum fünfzigsten Mal. Nicht mehr dabei sein wird Siegtorschütze Helmut „Der Boss“ Rahn. Der ewige Essener verabschiedete sich endgültig von der großen Fußballbühne. Sönke Wortmanns Film hat er nicht gesehen. Dafür strömten Andere ins Kino, um das Spiel noch einmal Paroli laufen zu lassen. Das Ergebnis: eher unentschieden.
Weil es so gut passt wurde das Wunder von Lengede direkt miteingemeindet. 40 Jahre liegt das Grubenunglück zurück. Die Bilder der verschütteten Kumpel sind spätestens seit der Aufarbeitung durch das Fernsehen ins kollektive Gedächtnis zurückgekehrt. Dass Lengede in Niedersachsen liegt, geschenkt. Kohle, Maloche, Unglück gibt es nur im Ruhrpott. HOP
Der Terrorist
Schließlich wurde A. in Düsseldorf doch noch als Terrorist verurteilt, bald soll der Kronzeuge Mitstreiter von Al-Tawhid belasten. Für uns ist der Palästinenser einen Spielfilm wert:
A. sitzt besoffen auf einem Bierkasten an einer Krefelder Haltestelle. Zugriff. Beim Verhör will der 27-Jährige Bin-Ladens-Leibwächter gewesen sein, plante Anschläge in Berlin und Düsseldorf, kennt Terror-Hinz und Moslem-Kunz. Im Gerichtssaal entspinnt sich eine Komödie von Schtonkschen-Ausmaßen: A. hatte Ärger mit der Terror-Zelle wegen Bierverbrauchs und Haschkonsum. Verbrachte die Abende bei acht Weizen in einer Düsseldorfer Schwulenkneipe. Erklärte dieses Lokal vor Gericht plötzlich zum Anschlagsziel, weil es jüdisch sei. Die Besitzerin erinnert sich nur an ihren Metallgürtel mit Pentagramm. An die Terrorziele in Berlin kann er sich auch nicht genau erinnern. Plötzlich wird bekannt: A. sei in einem afghanischen Ausbildungscamp aus drei Metern Höhe auf den Kopf gefallen. Trotzdem vier Jahre Haft und viel mehr lustige Prozesstage in Düsseldorf. CSC
Der Professor
Zum zweitenmal wurde er Opfer der NRW-Staatsmacht: Für Jörg Immendorff (58) war es ein Scheißjahr. Oder auch nicht. Er war nie ein schwarzer Anzug-Fetischist, der sich für die Kunstgeschichte bei den Mächtigen durch Rosetten quälte.
Nach seiner Orgie mit 11 Gramm Kokain aber nur neun Prostituierten wird ihn 2004 das Spießbürgertum zwischen Otto Schily und Hannelore Kraft treffen. Der eine freut sich, eine staatskritische Stimme hinter Gitter zu bringen, die andere wird das Schutzbedürfnis der Künstlerjugend preisen. Immendorff darf wieder nur Künstler sein, zum Glück kann er sich das leisten. Auf der Bühne des Café Deutschland werden Paradiesvögel geschlachtet. Die Staatsmacht mag keine blanken Spiegel. PEL
Die Spielhölle
Duisburg setzt alle Hoffnungen in eine Spielhölle, in den Casino-Liner, der dann nur „Urbanum Duisburg“ heißt. Das Projekt in der Innenstadt, auf dem Boden der bald abgerissenen Mercatorhalle, soll Bärbel Zielings (SPD) Stadt ganz nach vorne bringen: Glamourös soll‘s werden, schick, mit einem Fünf-Sterne-Hotel, Geschäften und illustren Gästen in den Konferenzsälen. Leider sprang der Hotelbetreiber Lindner in letzter Minute ab, die Geschäfte sind auch noch nicht vermietet. Lindner baut jetzt da, wo Duisburg gerne wäre: in den guten Lagen von Berlin, New York und München. JOE
Die Zeitung
Klappern gehört zum Handwerk. Und wirklich, die Tastaturen klapperten und klapperten bei der Regionalbeilage der Süddeutschen Zeitung für NRW – die ein wenig so tat, als müsse das Bundesland die Zeitung erst entdecken. Vierzehn Monate bis zum 14. März 2003 haute man in Düsseldorf in die Tasten: Tag für Tag acht Regional-Seiten der braven Familienzeitung gemischt mit Investigativem. Jeden Tag ein buntes Farbfoto auf der Titelseite. Hinten sagte das Panorama mit farbigen Buntfotos leise Tschö mit Ö – der Dom, der Rhein, der Karneval.
Gescheitert sei man nicht an den LeserInnen, hieß es, sondern an den Gesellschaftern. Die wollten sich vom „Nice-To-Have“-Projekt trennen. Vertrieb, Werbeflaute und Farbe kamen ihnen zu teuer, oder auch – zu bunt. Was bleibt: K-West, ein neues Kulturmagazin wandelt auf den Spuren des SZ-Feuilletons und sucht jetzt KommanditistInnen. Auch diese Idee kommt uns von der taz-nrw irgendwie bekannt vor. Glück auf den Weg! CSC