„Lenin war ein kranker Paranoiker“, sagt Alexander Jakowlew

Der Kommunismus wurde nicht erst von Stalin deformiert – er war selbst deformiert

taz: Herr Jakowlew, Sie haben in der KPdSU Karriere gemacht. Wann wussten Sie, dass Russland auf dem falschen Weg ist?

Alexander Jakowlew: Sie werden es mir nicht glauben: Ich weiß es nicht. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen. Es war eine Entwicklung, die schon im Krieg begann. Ich war damals 18 Jahre alt. Junge Burschen wurden an der Front wegen nichts erschossen oder weil jemand irgendetwas Nachteiliges über sie gesagt hat. Ganze Dörfer wurden niedergemacht. Da hörte ich erste Glöckchen des Zweifels erklingen.

Die haben sich verstärkt?

Ein Einschnitt war der XX. Parteitag der KPdSU. Nikita Chruschtschow hat das Denkmal Stalin zertrümmert. Ich war erschüttert zu hören, dass Stalin nicht der große Vater unseres Volkes war, sondern ein Mörder. Ich habe den ZK-Apparat daraufhin verlassen und bin an die Akademie der Wissenschaften gegangen, habe Marx und Engels und Lenin gelesen, aber auch Kant und sozialdemokratische Kommunismuskritiker wie Eduard Bernstein. Der Marxismus erschien mir zunehmend irreal, dass Gewalt die „Lokomotive der Geschichte“ sein sollte, hat mich abgeschreckt. Lenin war ein Terrorist. Die Oktoberrevolution war eine Konterrevolution. Aber noch immer verehrt man in Russland die Henker. Noch immer gelten die „weißen Armeen“, die im Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki gekämpft haben, als Verräter, werden Leute wie Kolschak und Kerenski nicht angemessen gewürdigt.

Wenn die antibolschewistischen Armeen den Bürgerkrieg gewonnen hätten – wäre das besser gewesen?

Sicher. Kann ein vernünftiger Mensch daran zweifeln? Es war eine Tragödie, dass die Bolschewiki gewonnen haben.

Viele meinen, Lenin war ein Idealist, der von den Umständen zu übertriebener Härte gezwungen wurde.

Lenin hat das Land mit Terror überzogen. Geiselnahmen, Massenerschießungen – das hat alles er eingeführt. Stalin hat einen einzigen wahren Satz gesagt: „Ich bin nur ein treuer Schüler Lenins.“ Damit hatte er Recht.

War Lenin verrückt?

Ich weiß nicht, ob er wahnsinnig war, aber ein Paranoiker war er ganz sicher. Ein gesunder Mensch kann gar nicht dauernd Befehle geben, die lauteten: „Sofort aufhängen“, oder „sofort erschießen“. Bauern, die den Schnee nicht weggeräumt haben, ließ er hinrichten. Kann ein normaler Mensch solche Beschlüsse fassen? Ich war auch an der Macht, ich hatte Macht, die von niemandem mehr kontrolliert wurde. Ich weiß, wie es ist, über das Schicksal anderer zu entscheiden. Es macht einen krank.

Sind Sie über sich selbst erschrocken?

Oft habe ich mich gefragt: Wer hat mir diese Macht gegeben? Wenn mir die Partei eine solche Macht gibt, dann stimmt mit der Partei etwas nicht. Ich habe das Amt des Generalsekretärs abgelehnt, ich bin freiwillig aus dem Politbüro ausgetreten. Wenn ich das heute einem Politiker erzähle, dann sagt der: „So ein Idiot!“.

Der Bolschewismus gilt immer noch als Produkt der Unterentwicklung Russlands. Sie zeigen aber, dass um 1900 der Analphabetismus zurückgedrängt wurde, Wirtschaft und Demokratie sich entwickelten – bis die Bolschewiki kamen.

Nachdem die Leibeigenschaft im 19. Jahrhundert aufgehoben wurde, begann die industrielle Revolution. Russland war kein einfaches Agrarland mehr. Ein städtisches Bürgertum entwickelte sich. 1905 hatte Russland eine erste Verfassung. Aber Russland hat diese Freiheit erschreckt. Es gab Korruption, Unruhe. Mit der Februarrevolution 1917 setzte sich die demokratische Freiheit durch. Aber Russland wusste mit der Freiheit wieder nichts anzufangen. Lenin nützte das aus. Als wir in den Achtzigerjahren wieder eine demokratische Revolution begannen, waren wir mit dem gleichen Problem konfrontiert. Das Einzige, womit die Russen nicht fertig werden, ist die Freiheit. Warum? Ich weiß nicht.

Wie sieht es heute mit den Freiheiten aus?

Unsere neue Nomenklatur würde die Zeit gerne zurückdrehen, aber das wird nicht gelingen. Ein Zurück zum Gulag und in den Imperialismus gibt es nicht.

Und Putin? Viele meinen, er etabliere ein neues autoritäres Regime, andern sagen, er ist das Produkt der russischen Misere.

Er ist mehr als ein Symptom. Niemand zwang ihn, die Wahl der Gouverneure abzuschaffen. Sicher drückt er auch Stimmungen im Land aus. Aber niemand zwingt ihn, niedrigste Instinkte zu bedienen.

Sollte der Westen Putins Tschetschenienkrieg stärker kritisieren?

Da hat Kritik wenig Sinn. Russland ist wegen des Zerfalls der Sowjetunion sehr sensibel, fast beleidigt, was den Verlust von Territorium betrifft. Der Krieg begann als verbrecherischer Krieg. Mittlerweile ist aber alles so verfahren, dass es keine einfachen Lösungen gibt. Klar: Dieser Krieg ist eine Schande. Man muss ihn beenden. Aber man muss auch verstehen: Wenn sich Kalifornien von den USA lossagen wollte, würde auch die US-Regierung Truppen schicken.

Wenn sich Chauvinismus und die Abspaltungsgelüste eines gepeinigten Volkes gegenüberstehen, ist eine gewaltsame Lösung doch unmöglich.

Natürlich. Und es gibt imperialistische Stimmungen in Russland. Aber ich glaube, in der nächsten Generation wird das anders sein. In unserer Generation sind die Leute noch nicht von den Barrikaden heruntergekommen.

INTERVIEW: ROBERT MISIK