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Archiv-Artikel

Die Ikone wacht über allen

KINDHEITSERINNERUNGEN Ein schwieriger Abschied von der Großmutter: Véronique Olmis autobiografisch grundierter Roman „Die Promenade“

Hören wir Nizza, so erscheint uns vor dem inneren Auge das Blau des Mittelmeers, weißer Sand und palmenbestandene Uferstraßen. Doch Véronique Olmis autobiografisch grundierter Roman „Die Promenade“, dessen Schauplatz die Metropole an der Côte d’Azur ist, spielt sich zum großen Teil nicht in, sondern genau neben dieser Ferienkulisse ab. Er handelt von einer Dreizehnjährigen und ihrer Großmutter. Die Großmutter ist Russin und hat vor der Revolution in einem Palast an der Newa gelebt. Sonja nennt sie „Babuschka“, doch viel weiter reicht ihr Russisch nicht. Die Babuschka dagegen lebt in einer Welt, in der man „Sdrawstwujte“ sagt, wenn man zur Tür hereinkommt, und die Legenden gepflegt werden, die sich um das angebliche Überleben der Zarentochter Anastasia ranken. Sonja, die mehr oder weniger bei der Babuschka aufwächst, da die Eltern mit ihr nichts anfangen können, lebt in der Großmutterwelt wie in einem Kokon. Während draußen der südfranzösische Sommer die Menschen an den Strand lockt, leben Großmutter und Enkelin in den vier Wänden der Wohnung, worin die Ikone der heiligen Jungfrau über sie wacht.

Olmi entwirft eine klaustrophobische Situation: auch was die Beziehung des Mädchens zur Großmutter betrifft, von der sie beschützt und gefangen gehalten wird. Doch dann bekommt Sonja einen Anruf von ihrer Mutter, die sich mit ihr treffen will – auf dem Bahnhof, denn sie hat vor, in den Zug nach Paris zu steigen und nicht mehr wiederzukommen. Als die verlassene Tochter in die Babuschka-Wohnung zurückkehrt, findet sie dort die Nachbarschaft versammelt und die Großmutter im Bett vor. Die alte Dame ist auf der Straße gestürzt und hat sich eine Wunde am Bein zugezogen.

Ab jetzt ist das gemeinsame Leben der Alten und der Jungen vorbei. Sonja genießt ungekannte Freiheit, kann, als die Großmutter ins Krankenhaus kommt, zu allen Tageszeiten an den Strand gehen und sogar eigene Bekanntschaften schließen. Doch wird es überraschend die Großmutter selbst sein, die dem Mädchen den entscheidenden Schub gibt, den es braucht, um sich endgültig abzunabeln.

Sehr vieles bleibt in diesem Roman unausgesprochen. Erzählt in Ich-Form und in der Vergangenheit, ist die Erzählhaltung, mit Ausnahme des allerletzten Absatzes, dennoch nicht die einer Rückschau. Sie bleibt konstant auf Augenhöhe mit der Dreizehnjährigen, in deren Erlebniswelt wohl auch die pubertäre Weigerung eingeht, über die eigenen Gefühle zu sprechen; vielleicht sind auch die erlittenen Verletzungen zu stark, um eine reflektierende Instanz zuzulassen. In auffällig sachlichem, kühlem Erzählgestus schildert Sonja, wie sie nacheinander von beiden Eltern verlassen wird; von der Mutter auf dem Nizzaer Bahnhof sitzengelassen, vom Vater, der ihr widerwillig etwas Geld zusteckt, erleichtert zur Großmutter abgeschoben. Ohnehin sind die Eltern bloße Randfiguren, die neben der übermächtigen Präsenz der Großmutter verblassen. Wenn Olmis eigene Großmutter das Vorbild für diese Babuschka war, muss sie eine eindrucksvolle Frau gewesen sein. Als Kindheitserinnerung aber ist dies eine traurige Geschichte.

KATHARINA GRANZIN

■ Véronique Olmi: „Die Promenade“. Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. A. Kunstmann, München 2009. 238 S., 18,90 Euro