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Archiv-Artikel

Hiob und die Schutzpatronin

Ich fand in Jesus meinen ersten Popstar, den ich mit der Begeisterung des ergebenen Fans vergötterte

VON BASCHA MIKA

Ich bin eine Heilige. Zumindest dem Namen nach. Meine Schutzpatronin, die heilige Barbara, ist eine der 14 NothelferInnen und spielt damit in der Oberliga der christlichen Märtyrer. Barbara passt auf die Bergleute auf. Im Kohlenstollen, tief unter Tage, bewahrt sie die Kumpel vor schlagendem Wetter, Gas und Wassereinbruch. Ob sie auch gegen Staublunge hilft, weiß ich nicht.

In der Kirche des murkeligen Dorfes, in der ich getauft bin und schon mit drei, vier Jahren mit in die Messe genommen wurde, hatte die heilige Barbara einen eigenen kleinen Altar. Oberschlesien war voll von Kohlengruben und Kumpel, die Schutz brauchten. Die konnten vor dem Standbild eine Kerze anzünden und so ihre Chance erhöhen, heil von der Arbeit nach Hause zu kommen. Ich jedenfalls wuchs in dem Bewusstsein auf, eine Heilige an meiner Seite zu haben. Barbara war für mich zuständig. Und umgekehrt war auch ich ihr verpflichtet; indem ich glaubte und zu ihr betete, half ich ihr bei der Arbeit. Klar konnte sie sich auf mich verlassen.

Gut zwanzig Jahre später, als mir mein Kinderglaube fremd geworden und ich aus der katholischen Kirche ausgetreten war, besuchte ich mein murkeliges, schlesisches Dorf. Draußen vor der Kirche, links der Eingangstür, fand ich eine Tafel mit zwei, drei Namen. Meiner war dabei. „Nicht mehr Mitglied unserer Kirche“ stand da. Es dauerte, bis ich begriff, dass es sich hier um einen hübschen kleinen Pranger handelte. Die Spione des Vatikans hatten meinen Abfall von Mutter Kirche – ich lebte seit langem im Westen – bis in die Volksrepublik Polen gemeldet.

Dabei hätte es auch gut gehen können mit mir und dem Glauben. Immerhin bezeichnen sich mehr als die Hälfte der Deutschen als religiös, und noch ein paar mehr glauben an einen Gott. Ich weiß, wie das geht. Viele Jahre, bei jeder kindlichen Angstattacke, wurde ich sofort ruhig und zuversichtlich, wenn ich zu beten begann: „Lieber Gott …“ Ich war aufgehoben. Diese schlichte Form der Selbstsuggestion ist mir nicht mehr zugänglich. Aber wie bei einer ehemals Abhängigen kommen manchmal alte Sehnsüchte hoch.

An meiner sehr katholischen Volksschule, weit im Westen der Republik, unterrichtete eine sehr katholische Lehrerin. Während der Religionsstunde disputierte ich mit ihr über die alttestamentlichen Figuren Abraham und Isaak. Ich zumindest hielt es für einen Disput, den ich wütend, mit den Argumenten einer Zweitklässlerin führte. Der alte Abraham will seinen Sohn Isaak schlachten, weil Gott es befohlen hat. So steht es im alten Testament. Begründung wird keine geliefert, zumindest keine, die mir damals einleuchtete.

Für Exegeten mag es ja interessant sein, dass die Erzählung von Abraham, den Gott in letzter Minute von seinem Mordbefehl entbindet, zivilisationsgeschichtlich die Abkehr vom Menschenopfer markiert. Vielleicht soll auch angesichts der Ungerechtigkeit gegenüber Isaak – sozusagen dialektisch – das Gerechtigkeitsgefühl des Betrachters gestärkt werden. Mir war das egal. Niemand konnte mir zufrieden stellend erklären, wie diese Geschichte in das mir vertraute Muster von Gut und Böse passen sollte. Dieser Jahwe konnte in seiner Willkür doch Recht von Unrecht nicht unterscheiden.

Offenbar ist ein Kind, das über viele Jahre vor dem Bett kniend gebetet hat: „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“, das mit einer schwer arbeitenden Heiligen, aufmerksamen Engeln und der Angst vor der Sünde groß geworden war, völlig verstockt und uneinsichtig gegenüber der brutalen Ambivalenz des alten Testaments. Ich verabscheute den feigen, autoritätshörigen Abraham und seinen grausamen Gott. Oder sollte ich rückblickend etwa dankbar sein für diese Lektion – die so etwas war wie Probehandeln im Widerstand gegen den eigenen autoritären Vater?

An christlichen Vorbildern mangelte es mir nicht. Meine Großeltern, die mir Beten beibrachten und sich um meine religiöse Erziehung kümmerten, trotzten mehr als 90 Jahre den Gemeinheiten des Lebens – und davon gab es einige. Selbst den Tod ihres einzigen Sohnes, meines Onkels, nahmen sie – da waren sie schon alte Leute – bewundernswert gefasst. Selbstverständlich hätten sie genickt auf die Frage, ob ihnen der Glaube hilft, die Wirklichkeit zu bewältigen. Sie waren keine Frömmler, aber unbeirrbar, dass es Gott und den Himmel gibt.

Oma und Opa bewiesen leibhaftig, dass was dran sein muss an der Behauptung, religiöse Menschen lebten länger und gesünder. Außer einer leichten Schwerhörigkeit nahm mein Opa nach über neun Jahrzehnten kein Gebrechen mit ins Grab. Ich will gar nicht daran denken, was wir Säkularen alles anstellen müssen, um bis zum Ende so heil davonzukommen.

Mit sieben ging ich zur Kommunion, mit acht wurde ich gefirmt, mit zehn wollte ich Nonne werden. Mir gefiel der Absolutheitsanspruch und das Unbedingte, das ich mit dem Klosterleben verband. Bis zum 12. Lebensjahr standen die Zeichen für eine dauerhafte Beziehung zum Himmel nicht schlecht.

Jesus war mir nach den finsteren Figuren des alten Testaments als reine Lichtgestalt erschienen. Er war so schön wie der junge Kaplan, der mich auf die Kommunion vorbereitete. Auf den Heiligenbildern, die ich sammelte und mit anderen Kindern tauschte, trug Jesus ein himmelblaues Gewand und große braune Augen, die wertvolleren Exemplare waren mit silbernem Glitzerpuder bestäubt. Sanft sah er aus, ein bisschen unglücklich und gar nicht mordlustig wie sein Vater. Ich hatte meinen ersten Popstar, den ich mit der Begeisterung des ergebenen Fans vergötterte.

Trotzdem ließ man mich nicht in Ruhe mit dem alten Gott, dem ich gerne aus dem Weg gegangen wäre. Ich lernte, was eine Hiobsbotschaft ist. Weil er mit dem Teufel gewettet hat, stellt Jahwe den armen Hiob auf die Probe. Er schickt ihm alle Plagen, quält ihn fast zu Tode und bedankt sich am Schluss artig, dass Hiob dennoch nicht vom Glauben abgefallen ist und der Antichrist eine Schlappe hinnehmen muss.

Gibt es eine dem kindlichen Intellekt zugängliche Interpretation des Hiob- Buches? Eine Antwort auf Hiobs verzweifeltes Warum? Wer versteht schon, dass es dabei gar nicht um die Willkür Gottes, sondern die Kontingenz des Lebens geht? Dass die Hiobsgeschichte als Metapher für die Unverfügbarkeit der menschlichen Existenz steht? Selbst wenn ich eine solche Deutung damals verstanden hätte – der emotionalen Kraft der biblischen Erzählung und der hässlichen Fantasien, die sie auslösten, hätte sie nicht standgehalten.

Ich wuchs in dem Bewusstsein auf, eine Heilige an meiner Seite zu haben: Barbara

Mit einer Mischung aus Neid und Unverständnis begegnen gläubige Protestanten der katholischen Beichte. Sie haben ja keine Ahnung. Kein christliches Ritual greift stärker in das Selbstwertgefühl ein, spielt vollendeter mit Schuld, Scham, Erniedrigung und Abhängigkeit.

Katholiken halten ein Kind, das zur Kommunion gegangen ist, reif für die Beichte. Ich wurde jeden Samstagnachmittag hingeschickt. Du sitzt in der Kirchenbank und dir ist immer ein bisschen schlecht, weil du gleich in den Beichtstuhl musst. Du erfindest Sünden, die du dem Pfarrer erzählen musst, weil dir ja niemand abnimmt, dass du ohne Sünde bist. Bist du auch nicht. Aber was du als Kind so verbrichst, wirst du doch niemandem freiwillig erzählen, der es nicht nachprüfen kann.

Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich nie das Gefühl, dass Gott alles sieht und weiß, dass er ein Spion ist, der sich in meinem Hirn eingenistet hat und meine Gedanken liest. Wie hätte ich ihm sonst vertrauen können? Aber die Beichte machte mich zum Spion in eigener Sache und den Pfarrer zum Agentenführer, der Informationen von mir erpresste, die ich nur unter Folter preisgab. Dahinter stand ein allmächtiges System, ich war ausgeliefert.

Verlor ich den Glauben, als ich anfing zu denken? Unsinn. Der Blick für das Lächerliche des katholischen Brimboriums, der Widerwille gegen das Pharisäerhafte von Beichte und Buße, der Widerstand gegen den Anspruch von Herrschaft und Gehorsam stellt sich schleichend ein. Und irgendwann funktioniert das Ritual von Glauben und Beten nicht mehr und die Wirklichkeit muss anders bewältigt werden.

Als ich später im Studium die Gottesbeweise der Philosophen diskutierte, tat ich es kalt und unberührt. Es gab kein Band mehr. Der Eifer der großen Denker, etwas theoretisch beweisen zu wollen, was doch höchstens zu glauben war, interessierte mich nur noch intellektuell. Da war nicht einmal mehr wirkliche Neugier.