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Archiv-Artikel

Dokument und Erzählung

Der französische Magnum-Fotograf Gilles Peress zeigt im Fotografieforum C/O Berlin Aufnahmen vom Mauerfall. Ergänzt werden die Fotos durch Kommentare von Zeitzeugen. Das komplexe Projekt brachte das Fotografieforum an seine Grenzen

VON TIM ACKERMANN

Bei allem Getue um das 15-jährige Jubiläum des Mauerfalls war eines auffällig: Ernst zu nehmende künstlerische Auseinandersetzungen zu diesem Thema fehlten im öffentlichen Diskurs fast völlig. Lobenswerte Ausnahme ist der französische Magnum-Fotograf Gilles Peress, dessen Eindrücke der deutsch-deutschen Wende zurzeit im Fotografieforum C/O Berlin zu sehen sind. Unter dem Titel „Grenzenlos“ zeigt Peress drei Gruppen von jeweils 20 großformatigen Fotografien, die im vierwöchigen Rhythmus ausgetauscht werden.

Ein wichtiger Teil von Peress’ Konzept ist die Einladung zum Mitmachen: Der Fotograf fordert die Besucher auf, eigene Gedanken zur Wende niederzuschreiben – als Kommentare auf frei gelassene Papierstreifen unterhalb der Fotos. Die Fotografien mit den Kommentaren sollen nach der Ausstellung als Unikat gebunden werden. Wer hofft, dass Peress den Menschen in Ost und West die Bedeutung des Mauerfalls erklärt, wird enttäuscht. Denn die Fotos bieten jenseits der bekannten Fernsehbilder kaum Einsichten. Viele von Peress’ Aufnahmen zeigen Menschen, denen die Unsicherheit über die Tragweite des Ereignisses ins Gesicht geschrieben steht. Damit fängt er die gespannte Atmosphäre jener Tage ein. Als Rückblick auf den historischen Augenblick jedoch, der den Systemzusammenbruch der DDR markiert, wirken die Fotografien zumindest aus deutscher Perspektive nicht tiefgehend genug. Es drängt sich auf, dass sich eine halbwegs gültige Aufarbeitung des Mauerfalls durch distanzierte Fotografie allein nicht vollbringen lässt. Die Wende als politisch und psychologisch komplexer Prozess erklärt sich nicht von selbst. Sie muss im Zusammenhang mit ihren Akteuren gesehen werden.

Zweifellos war es daher eine gute Entscheidung von Peress, die Deutschen um Mithilfe zu bitten. Ein interessanter Schritt für den Künstler, der lange sagte, er traue Worten nicht, Bildern dagegen schon. Der Dialog aus Text und Bildern, den er jetzt bei C/O Berlin entstehen lässt, liefert wertvollere Eindrücke als jede geschliffene Politikerrede: Die Bekenntnisse vieler Westdeutscher, die nach dem Fernsehmarathon am 9. November 1989 schulterzuckend zum Alltag übergingen, sind zumindest ehrlich. Eine Ostberliner Schauspielerin erzählt dagegen vom surrealen Gefühl, tagsüber im Theater „Marat/Sade“ zu proben und dann am Abend die echte Revolution mitzuerleben.

Es sind die Einzelstimmen der Besucher, die sich an den Wänden der Ausstellung verweben und die Komplexität des Themas „Wende“ verdeutlichen. Die konkreten Stellungnahmen verbinden sich mit der distanzierten, dokumentarischen Atmosphäre der Fotos zu einem spannenden, nachdenklichen Projekt. Die Ausstellungsmacher haben mit Unterstützung des Hauptstadtkulturfonds eine wichtige Aufgabe übernommen, die auch eines großen staatlichen Museums würdig gewesen wäre.

Dass Peress’ Mauerfall-Fotografien ausgerechnet bei C/O Berlin erstmalig gezeigt werden, ist ein Zeichen funktionierender Mundpropaganda. Auf Anregung von Elisabeth Biondi, der deutschen Bildredakteurin des New Yorker, lud Peress Stephan Erfurt von C/O Berlin nach Amerika ein und kramte seine Berlinaufnahmen aus der Schublade. Erfurt war klar, dass sich hier eine Gelegenheit für ein einzigartiges Projekt zum 15. Jahrestag des Mauerfalls anbot.

Die Realisierung brachte das kleine Fotografieforum, das erst seit 2001 besteht, an seine Grenzen: „Die Ausstellung wurde wesentlich teurer als geplant“, erzählt Erfurt. Auch wegen der engen Einbindung von Peress. So seien die Fotos erst zwei Tage vor der Vernissage geliefert worden. Hals über Kopf musste man für 8.500 Euro Plexiglasrahmen produzieren lassen – auf das Budget konnte keine Rücksicht mehr genommen werden.

Für ein großes Museum sind solche Summen zu verschmerzen, doch ein kleines Haus, das von der Selbstausbeutung der Betreiber lebt und sich vorwiegend durch Eintrittsgelder und Vermietungen finanziert, wird empfindlich getroffen. Erfurt hofft, nach der Ausstellung das entstandene Buch an eine Institution oder einen Spender verkaufen zu können, der das Unikat dann einem Museum überlässt. Durch den Verkauf würden die Verluste begrenzt. Angesichts der gelungenen Ausstellung wäre es tatsächlich ärgerlich, wenn das Fotografieforum am Ende für sein Engagement finanziell bestraft würde.

Die Peress-Schau markiert auf jeden Fall das Ende einer dreijährigen „Experimentierphase“, nach der C/O Berlin die Zahl seiner freibeschäftigten Mitarbeiter verringert und die Ausstellungsräume im Gebäude näher zusammenbringt, um die Mietkosten zu senken. Dass man jedoch auch weiterhin repräsentative Projekte übernehmen will, zeigt eine Ausstellungsidee fürs nächste Jahr: Die Tate Modern in London hat C/O Berlin ihre große „Robert Frank“-Retrospektive angeboten.

Bis 23. Januar im C/O Berlin, Linienstr. 144. Täglich 11–19 Uhr