: Der 200-Stufen-Job
Manfred Toews arbeitet als Turmbläser über den Dächern von Lüneburg. Täglich um 9 Uhr beschallt er die Stadt mit einem Choral – und findet seine größten Fans in einer nahe gelegenen Schule
von Maren Albertsen
Es ist düster, es zieht, und auf dem Boden sammelt sich Taubendreck. Man kann sich schönere Arbeitsplätze vorstellen, doch Manfred Toews lächelt zufrieden. Was er sieht, wenn er sich umschaut, sind verwinkelte Holzkonstruktionen, ein kleiner Notenständer samt vergilbtem Notenheft und vier große Fensterluken, die einen ungestörten Blick auf die Ziegeldächer Lüneburgs erlauben. Außerdem sieht er eine große Kirchenglocke. Jeden Morgen, außer sonntags, steigt Toews die St.Johannis Kirche herauf, um hier im Glockenturm seine Arbeit aufzunehmen.
Nachdem er die 200 Stufen der engen Wendeltreppe – „Wieso eng? Hier kann man doch bequem laufen!“ – hinaufgestiegen ist, öffnet er Punkt neun Uhr die erste Luke und fängt an, auf seinem Horn einen Choral eigener Wahl zu spielen. Nach einigen Minuten spielt er jeweils im nächsten Fenster weiter, bis er einmal herum ist.
Diese Tradition gebe es seit dem 30-jährigen Krieg, erklärt der Turmbläser. „Lüneburg war damals belagert. Darum haben die Sülfmeister, die reichen Kaufleute Lüneburgs, ein Gelübde abgelegt. Für den Fall, dass die Stadt der Belagerung standhält, wollten sie einen Topf mit Geld für denjenigen bereitstellen, der täglich zu Ehren Gottes einen Choral in alle vier Himmelsrichtungen bläst. Tja, und Lüneburg hielt stand.“ Die Tradition gibt es heute noch, den Topf mit Geld allerdings nicht mehr.
Es gibt nur noch zwei weitere Städte im Norden, in denen täglich Choräle zu Ehren Gottes von Kirchtürmen gespielt werden. Von der Hamburger St.Michaelis Kirche wird spätestens seit ihrem Wiederaufbau 1750 regelmäßig geblasen, und in der Stadtkirche St.Marien in Celle gibt es seit 1938 einen Turmbläser.
Dass Toews vor 26 Jahren als Turmbläser anfing, war eher ein Zufall. Er arbeitete damals im Amt für Agrarwissenschaften in der Nähe der Kirche, von wo aus er den Choral jeden Morgen gut hören konnte. „Das fand ich schon sehr schön.“ Als es dann nach einer Renovierungsphase eine Sendepause gab – der damalige Bläser konnte nicht mehr weitermachen – überlegte Toews sich, die Stelle zu übernehmen. „Das bot sich ja an. Ich konnte ein bisschen spielen und hatte es nicht weit.“
Konkurrenz musste er nicht fürchten, „die wenigsten können das mit ihrem Job vereinbaren.“ Toews konnte sofort anfangen. Mittlerweile ist er im Vorruhestand, aber mit dem Turmblasen er will weitermachen, „solange es eben noch geht“. Und zwar in jeder Jahreszeit: „Wenn der Ostwind zu stark ist, lasse ich diese Seite manchmal aus. Aber dass ich mal wegen Frost nicht gespielt habe, hat es noch nicht gegeben.“
Manfred Toews größte Fans sind Kinder einer Schule, die an das Kirchengelände grenzt. „Die winken mir jeden Morgen zu und applaudieren auch.“ Eine Klasse, die ihn einmal auf dem Turm besucht hat, hat ihm ein großes Plakat mit aufgeklebten Fotos und Briefen geschenkt. „Die Briefe sind leider schon ziemlich verblichen“, sagt Toews und streicht das Plakat vorsichtig glatt. Er hat es an seinem Arbeitsplatz aufgehängt, gleich über dem Notenständer. „Wir denken jeden Tag um 9 Uhr an Sie!“ steht darauf. Und: „Danke!“