BERNHARD PÖTTER über KINDER: Und der Enkel sprach: Lehre sei Gott!
Fest der Harmonie? Nie verstehen wir uns schlechter als zu Weihnachten. Das Fest ist einfach nichts für Kinder
Sie kennen die Weihnachtsgeschichte, wie sie Lukas erzählt. Aber Sie kennen nicht die Weihnachtsgeschichte, wie sie Jonas und seine Freunde erzählen:
„Also, es ist eine Geschichte von Lukas und Jim Knopf“, sagte mein Sohn im letzten Jahr, als er vom Krippenspiel kam. „Jesus wurde in einem Kuhstall geboren. Dann wickelten sie ihn in Windeln, das war eklig. Und sie legten das Kind in eine Wippe. Und dann kam ein Enkel Gottes zu den Hirten.“
Stille Post in der Stillen Nacht: Unter Kindern grassieren die seltsamsten Gerüchte über das Weihnachtsevangelium. Zum Beispiel: Es war kein Platz bei Sepp Herberger. Draußen waren Hirten beim Schlafen. Dann erschien ein Enkel/Onkel/Engel Gottes und sagte: Lehre sei Gott! Und dann kamen die Waisen aus dem Morgenland, die keine Eltern mehr hatten.
Lachen Sie nicht. Versuchen Sie sich lieber daran zu erinnern, welche Meldungen gestern Abend in der „Tagesschau“ besonders wichtig waren. Na? Sehen Sie. Vom einmaligen Hören bleibt bei uns kaum was hängen.
„Kinder verstehen Weihnachten besonders gut“, sagt unsere Freundin Julia. Sie hat keine Kinder und muss deswegen nicht einsehen, dass das grandioser Quatsch ist. Kinder verstehen, dass sie an Weihnachten Geschenke bekommen, obwohl jemand anderes Geburtstag hat. Dass sie qualvoll den ganzen Dezember über warten müssen und immer nur ein Türchen aufmachen dürfen. Dass sie sich ungestraft mit Spekulatius und Zimtsternen voll stopfen dürfen. Mehr verstehen sie nicht.
Wie sollten sie auch? Schließlich ist Weihnachten überall und offiziell das Fest der Missverständnisse. Es fängt damit an, dass der Weihnachtsmann eigentlich der Nikolaus ist oder umgekehrt; dann denken die meisten Menschen, Weihnachten (und nicht Ostern) sei das wichtigste Fest der Christenheit – und verwechseln Christen mit Einzelhändlern; die taz meinte im vergangenen Jahr, Weihnachten sei das Fest der Tiere – und hatte dabei wohl eher die Grüne Woche im Hinterkopf; fast jeder behauptet, Weihnachten sei das Fest der Liebe und der Familie – was oft genug ja ein Widerspruch in sich ist. Und schließlich ist das größte Missverständnis die Idee vom „Frieden auf Erden“ – man schaue sich nur mal um.
Jonas lag also gar nicht so abseits mit seiner Version der Lukas-Geschichte. Anna traute sich sogar, den Hörfehler unseres Erstgeborenen pädagogisch wertvoll zu deuten: „Er schaltet halt nicht ab, wenn er was nicht versteht. Er sucht kreativ nach einer neuen Geschichte, die ihm sinnvoll erscheint.“ Anna war an diesem Weihnachtsabend durch und durch Miss Verständnis.
Der Anlass war ja auch entsprechend. An Weihnachten entschuldigen wir vieles. Und das Fest selbst ist ja auch voller gewollter und ungewollter Missverständnisse. Nach heutigem Kenntnisstand wurde Jesus nicht in Bethlehem, sondern in Nazareth geboren. Es gab keinen Stall und keine Krippe, die wurden erst im Mittelalter erfunden. Hirten waren bestimmt nicht als erste Gäste da, denn die galten in Israel als Diebe und Gauner. Auch die Zeitangaben stimmen hinten und vorne nicht, und von Weisen aus dem Morgenland weiß niemand etwas.
Was ist dagegen schon ein Missverständnis wie unseres vor zwei Jahren. Jeder dachte vom anderen, er habe die Kerzen auf dem Adventskranz in der Küche ausgeblasen. Die Kerzen hatten dann nicht lange gefackelt und ließen den halben Küchentisch in Flammen aufgehen.
Vielleicht bringe ich für die weihnachtlichen Missverständnisse zu wenig Verständnis auf. Das liegt an einem Kindheitstrauma. Früher wohnte bei uns im ersten Stock ein Nachbar namens Martin Rhodes. Das ganze Jahr über ein unauffälliger Typ. Nur nach meinem ersten bewussten Weihnachten und den Gräuelgeschichten über den bösen König und Kinderschlächter Herodes wurde der Mann unheimlich. Nichts wie weg, wenn meine Mutter sagte: „Herr Rhodes kommt heute zum Kaffee.“
Fotohinweis: BERNHARD PÖTTER KINDER Fragen zu Weihnachten? kolumne@taz.de MORGEN: B. Bollwahn über ROTKÄPPCHEN
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