strafplanet erde: mut zur lücke von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Demonstrativ stapelte der Controller meiner Innenrevision acht Notizbücher aufeinander, das kümmerliche, aber immerhin greifbare Überbleibsel des Jahres, dessen Ende naht.

In der Absicht, eines nach dem andern durchzusehen, machte er wie üblich mit Getöse ein Gewese um diesen bürokratischen Vorgang, der seine Existenz rechtfertigte, sie mit Sinnhaftigkeit aufpumpte. Ich solle doch dran teilhaben, ermunterte er mich. „Ich möchte lieber nicht“, gab ich mich ungewöhnlich zurückhaltend und blieb an meinem Schreibtisch sitzen, zumal nachmittags ein Termin bei der Zahnärztin bevorstand. Ein strahlend-dunkler Schmerz an einem Backenzahn hatte seit gestern mein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom aktiviert.

„Hier, das wär doch was für einen kritischen Essay“, rief der Buchhalter rüber und las laut: „Der Niedergang der gedruckten Medien dauert an, begann aber sehr viel früher als man gemeinhin vermutet: In den 1850er-Jahren erschienen in San Francisco allein 132 Zeitungen und Zeitschriften, erfährt man in der Ambrose-Bierce-Biografie von Roy Morris. Im Jahrzehnt danach waren es nur noch 87 Publikationen, darunter sechs Tageszeitungen.“ Als ich nicht reagierte, beschränkte er sich darauf, murmelnd weiterzublättern. „Neandertalprosa“ meinte ich zu verstehen, „feinsinniges Geschwafel“ und „gespreiztes Geschwätz“, dann „Goldschmiedsprosa“. Meinte er mich? Mein Werk?

„Da, könnte man auch eine Konzeptentwurfsskizze draus machen“, meldete er sich zurück. „Eine Liste von Fernsehsendungen Knoop’scher Prägung: ‚Die Nacht der deutschen Wehrmacht‘ auf N 3; ‚Sterben an der Ostfront‘, zweiteilige Reportage im MDR; ‚Die große Flucht, das Schicksal der Vertriebenen‘ im ZDF, ‚Auf neuem Kurs – Neue Aufgaben für die Bundeswehr‘, NDR 3.“ Das hätte man längst machen müssen, dachte ich behende, in einer Art „Konfrontainment“-Beitrag, als „Der Untergang“ oder als „Das Wirtschaftswunder von Bern“ anlief. Jetzt war’s zu spät. Eine von tausend verpassten Chancen.

Der Buchhalter, mit keiner Antwort rechnend, schnappte sich das zweite Notizbuch, dessen Einband marmoriertes Papier imitierte. Ich musste los. „Viel Erfolg“, brummte ich und lag Sekunden später auf der Sirodent-Behandlungseinheit, neben mir stand Frau Doktor, mit einer Sonde hantierend. Danach griff sie zum Bohrer. Legte ihn beiseite und sagte: „Wissen Sie, ich glaube, ich habe noch nie einen Zahn gezogen, der es nicht verdient hat. Dieser hier muss raus. Ist durchgebrochen und nicht zu retten. Ein Riss bis zur Wurzel.“ Zu Stein gefror mein Herz, ein Schatten flog über meine Seele, mit klappernden Zähnen sah ich sie an: Im zarten Alter von 40 Jahren sollte ich nun erstmals einen verlieren, der nicht aus Milch war. Die nikotinfarbene Perlenkette würde brutal eines Gliedes beraubt. Dr. Feinfinger, mein Erzrivale und Fernschachgegner, würde jauchzen vor Freude … Vergänglichkeit … Zerfall … Wo bleibt der Mut zur Lücke, wenn man ihn braucht … ARRGH!!!

Früh wachte ich auf am nächsten Morgen, das Radio lief: „Hamburg minus zwei, Berlin minus sechs, München minus drei.“ Genau, das war’s, das waren die Fakten: Ich minus eins.