: Geschleift bis auf die Fundamente
Betr.: „Dem Volk einen Staatsstreich spielen“, taz hamburg v. 18.12.
Die Formulierung des Bürgerentscheids: „Wir fordern den Senat auf“, wurde vom Oberverwaltungsgericht Bremen (...) nicht als Ersuchen, sondernd als bindend angesehen. Die Bürgerschaft hatte ein Ortsgesetz beschlossen, welches die Enteignung rechtfertigen sollte für Wohnen, Gewerbe, Kleingärten und Landschaftspark. In der gleichen Sitzung hat die Bürgerschaft einen Beschluss gefasst, der so beginnt: „Wir fordern den Senat auf: ... nur die Bauleitplanung für den Wohnungsbau aufzunehmen ...“ (...)
Das OVG hat geurteilt: „Es ist nicht ersichtlich, warum eine Enteignung auch für Gewerbeflächen erforderlich sein könnte, dieses ist aber wohl auch gar nicht so gemeint gewesen.“ Und sieht damit diesen zweiten unveröffentlichten Beschluss für entscheidungserheblicher an als das Ortsgesetz, obwohl er der Formulierung nach nur ein Ersuchen ist. (Nach der Rechtsauslegung des Hamburger Verfassungsgerichtes handelt es sich bei dieser Formulierung nur um ein unverbindliches Ersuchen.) Joachim Fortkamp, Bremen
Martin Schmidt mag mit seiner Kritik an der Entscheidung zur Volksgesetzgebung im Ergebnis Recht haben. Aber schlüssig begründen kann auch er seine Auffassung nicht. Zu viele Fragen bleiben deshalb unbeantwortet.
Wer in die Verfassung ausdrücklich hineinschreibt, auf welchem Weg das Ergebnis eines Volksentscheids nicht geändert werden kann (nämlich durch einen weiteren Volksentscheid innerhalb von zwei Jahren), muss sich gefallen lassen, dass jede andere grundsätzlich bestehende Möglichkeit für zulässig gehalten wird. Und das betrifft nach Auffassung des Verfassungsgerichts – anders als Martin Schmidt meint – auch in Volksentscheiden beschlossene Gesetze. Das Urteil vom 30.11.2004 schleift die Volksgesetzgebung bis auf die Fundamente.
Nach der Konstruktion der Hamburger Verfassung kann es aber nicht richtig sein, den Volksentscheid als „Volkspetition de Luxe“ anzusehen. (...) Ferner muss sich die Bürgerschaft auf dem Weg bis zum Volksentscheid mit der Sache zweimal befassen. Damit könnten die Initiatoren ihren Erfolg durch eine weitere Runde kaum mehren, wenn der Volksentscheid lediglich eine nochmalige Aufforderung zur Diskussion in der Bürgerschaft wäre. Nicht zuletzt kann die Bürgerschaft beim Volksentscheid sogar eine eigene Vorlage zur Abstimmung stellen.
All diese Vorschriften machen nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass der Volksentscheid wenigstens die Bürgerschaft bis auf weiteres (z.B. Änderung der Sach- und Rechtslage) bindet. Das haben die Antragsteller, das Verfassungsgericht und auch Martin Schmidt jedoch nicht ernsthaft ausgelotet. Martin Schmidt scheint bei der Formulierung der Volksgesetzgebung selbst von der Bürgerschaft als Volksvormund ausgegangen zu sein. Offenbar wollte auch er für den Fall, dass das Volk durchdreht, eine Notbremse einbauen. Dies ist heute jedoch überholt. Besser hätte er sich darauf verlassen, dass die Bürger, die von den Ergebnissen der Volksgesetzgebung oft stärker betroffen sind als die meisten Volksvertreter, sich ihre Entscheidung gut überlegen. Und für den schlimmsten Fall gibt es die Verfassungsgerichte in Land und Bund, die dem Ergebnis eines Volksentscheides in lange eingeübten Verfahren ggf. die Unverträglichkeit mit höherrangigem Recht (d.h. die Nichtigkeit) attestieren.
Ein Volksentscheid über eine andere Vorlage mag zwar den Senat nicht binden. Das liegt aber selbstverständlich in der Natur der Gewaltenteilung. Trotzdem muss die Bürgerschaft bis auf weiteres (s.o.) gegen sich gelten lassen, wenn das Volk selbst ihre Willensbildung durch Volksentscheid ersetzt. (...)
Niemand darf sich über die Gegenwehr der Bürgerschaft wundern, wenn der Eindruck entstehen kann, dass mit Volksentscheiden „teure“ Beschlüsse unter Beifall der Opposition durchgesetzt werden und die Regierenden nur die Wohltaten finanzieren sollen, die andere jubelnd verteilen. Wer bestellt, sollte auch bezahlen – z.B. durch zugleich beschlossene Grundsteuererhöhungen, die alle Bürger angemessen an der Finanzierung eines Beschlusses beteiligen.
Fazit: die Bürgerschaft ist schneller und flexibler als das Volk. Das ist ihr Vorteil. Dies darf sie jedoch nicht nutzen, den in einem Volksentscheid zum Ausdruck gekommenen Volkswillen auszuhebeln. Sie ist Volksvertretung, nicht Volksvormund. Allerdings hat das Volk am 29.02.2004 ein wenig mit dem Feuer gespielt, als es in einer ihm offenbar wichtigen Frage seinen eindeutigen Willen kundtat und am gleichen Tag den erklärten Gegnern dieses Willens eine absolute Mehrheit in der Bürgerschaft verschaffte. (...) Dr. Frank Bokelmann