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Archiv-Artikel

Allein unter Kameraden

Zu Weihnachten gehört die dörfliche Idylle. Dann aber will man dringend zurück in die hässliche, dreckige Stadt

Verloren. Verloren. Verloren. Um mich herum nichts als glückliches, schneeregennasses Grün, kahle Bäume, die sich für den Frühling erholen, Bauernkaten, Eigenheime, rauchende Schornsteine, Stille. Daran ist nichts Beruhigendes. Im Gegenteil.

Verl. Bei Gütersloh. Bei Bielefeld. Hier bin ich aufgewachsen, habe Rad fahren und schwimmen gelernt, bin zur Grund- und Oberschule gegangen und im Wald herumgegeistert. Das, was man so leichthin Natur nennt, tatsächlich Ergebnis jahrhundertelangen Nutzanbaus, scheint intakt. Eichhörnchen gibt es, Füchse, Dachse vom Hörensagen, Rehe, dazu dann Schweine, Schafe, Pferde, Rinder – alles, was man auf irgendeine Art zu Wurst machen kann, wird hier gehalten. Das Wetter ist sehr oft gut, die Luft ebenso, sogar die Laune der meisten Menschen ist, na ja, zumindest nicht schlecht. Das macht mir Angst. Stets, wenn ich den Fernseher anmache und Laurenz Meyer sehe, sehe ich in ihm meine Lehrer, meinen Pfarrer, meine Nachbarn. Derb, hämisch, zufrieden, satt.

Und doch muss und will ich jedes Jahr hierhin. Weihnachten. Ich mag meine Eltern, meinen Bruder, die Ecke hier, will ein guter Sohn sein, mag sogar den Festtagsbimbam. Erst wenn ich da bin, beginnt die Angst.

Schon der Weg von Berlin her, das langsame Antasten – Bielefeld mit seinem „neuen Bahnhofsviertel“ übertrifft sogar den Potsdamer Platz an Würdelosigkeit. Dann Gütersloh, von Miele und Bertelsmann lebendes Großdorf, dessen Bewohner gegen die Sanierung ihres Theaters protestieren. Schließlich Verl, ein Nichtort, öde, sandige, karge Gegend, einst die ärmste Preußens, aus der die Bauern flohen, um lieber betteln zu gehen. Die, die blieben, aus Dummheit oder inzuchtbedingter Trägheit, bekamen den Kunstdünger und waren plötzlich reich. An ihrer Mentalität hat das nichts geändert, die Arbeiter, die die beiden Weltkonzerne ins Dorf spülten, bleiben für die Hiesigen Fremde.

Man trifft sich in der Kirche, kennt die Verwandtschaft nahezu aller Anwesenden bis ins dritte Glied, belauert sich, zwingt sich gegenseitig zu stets noch grässlicherem Zierrat in Haus und Garten und nennt das Wohlbefinden. So wie vermutlich in jedem anderen Dorf, ob nun in Hessen oder Schleswig.

Wir, die wir aus Berlin hergekommen sind, wider besseres Wissen und der Gefühle wegen, sperren uns hier ein für ein paar Tage bei Kerzenschein und Lebkuchen, was schön ist, solang man nicht aus dem Fenster schaut oder zum Zigarettenautomaten muss. Denn dann kann man ihnen nicht mehr ausweichen, den Blicken der Schulkameraden von einst, Kameraden heute in Freiwilliger Feuerwehr und CDU, sie nicken einem unwirsch zu, fragen, wie es so sei, in Berlin, man selbst könne da ja nicht leben, die Ausländer, der Dreck, das hektische Leben, jaja.

Wir schweigen geknickt. So gern wäre man jetzt wieder dort, in Berlin, der Stadt, in der einen keiner beachtet, in der man nur angeraunzt wird, eine Stadt, die keinen rheinischen Frohsinn kennt und auch keine westfälische Häme, die hässlich ist, dreckig, kalt, dunkel, in der Radfahrer sofort überfahren werden, Alte geschubst, in der Kinder keinen Raum haben und die absolut keine Idylle ist. Ein Ort, an dem man monatelang tot in der Wohnung liegen bleiben wird, wenn man niemanden kennen lernen will, keine Nachbarn, keine „Kameraden“. Eine Stadt, die einen so lässt, wie man bleiben will: undörflich. JÖRG SUNDERMEIER