Rudi … Wer?
Der DDR-Sportreporter Heinz Florian Oertel war Dutschkes erster Held. Pfarrer Helmut Sell sorgt Seelen in Dutschkes Heimatort. Torsten Dutschke hatte mal einen Onkel Rudi. Karsten Bretschneider hat eine Attac-Gruppe gegründet. Micha Sontheimer ist beim „Spiegel“. Auf der Suche nach Rudi Dutschke
Torsten Dutschke ist Rudis Neffeund im Vorstand des Luckenwalder Fußballvereins. „Und ich wähle links“, sagt erSascha Wittig ist Chef des Luckenwalders Jugendtreffs. „Ja, klar“, sagte seine Mutter eines Tages, „der Dutschke ging mit mir in die Schule“
VON NADJA KLINGER
„Wie Jesus Christus sah er aus. Und sein Blick verfolgte uns, ob wir auf der einen oder anderen Seite des Raumes standen. Sein Blick traf uns immer wieder. Er hatte langes, lockiges Haar, wie Jesus auf den Heiligenbildchen sah er aus, genau so!“ (Eine bolivianische Krankenschwester über den toten Che Guevara.)
Niemand, kein Teenager, kein alter Herr, trägt heute einen Button mit dem Gesicht Rudi Dutschkes an der Jacke. Wie sah Dutschke aus? Er hatte dunkle Haare, links gescheitelt. Meist wehte der Pony im Wind. Oder er fiel wie ein Vorhang übers Gesicht. Dann waren da noch dunkle Augen, die unter dichten Brauen wohnten wie unter Dächern. Dutschkes Mutter meinte, es hätte sein Wachstum behindert, dass ihr Sohn Sport trieb. Mit 16 gewann er bei den DDR-Jugendwettkämpfen der Leichtathletik Bronze. Er absolvierte nicht eine Disziplin, sondern alle. Er war Zehnkämpfer, sah aber nicht wie einer aus. Wer war Rudi Dutschke noch? Er wurde im Zweiten Weltkrieg geboren. Vom Luftschutzkeller aus hörte er Bomber übers brandenburgische Luckenwalde fliegen. Er tat, was er tun konnte: beten. In der „Jungen Gemeinde“ der Kirche von Sankt Petri traf er auf einen Helden und verehrte ihn fortan. Jahre später erwähnte er ihn im Tagebuch: Jesus Christus ist der Welt größter Revolutionär. Schon mit drei oder vier setzte sich der kleine Rudi zu Wehr. Ein Soldat kam ins Haus und berührte die Mutter. „Das Kind hat Angst, will sie beschützen, schlägt nach dem Soldaten“, erzählt ein Biograf. „Der Soldat verprügelt das Kind. Die Mutter sagt: Das ist dein Vater.“
Gern wäre Dutschke Olympiasieger geworden. Der große Traum war unerreichbar, weil Rudi zu klein war. Er hat geübt und geübt, um Sportreporter zu werden. Hat vor sich hin kommentiert, Wettkämpfe beschrieben wie im Radio. Von diesem Traum ist ihm nur die Übung im Reden geblieben. Im Sommer 1961 legte er in Westberlin ein zweites Abitur ab. Daheim war es ihm wegen einer politischen Rede an der Schule so vermasselt worden, dass er nicht Sportreporter werden konnte. Am Abend des 13. August war die Heimat plötzlich jenseits der Mauer. Im Diesseits, wo sich Dutschke aufhielt, fand sich ein weiterer Held. Er verehrte ihn so sehr, dass er seinem Sohn dessen Namen gab. Der Held war Che Guevara, der seine Feinde nicht liebte wie Jesus Christus, sondern leidenschaftlich hasste. Rudi Dutschke soll ein begnadeter Rhetoriker gewesen sein. Seine waren Sätze voll gepumpt mit Theorie.
Auf Nachfragen hangelte er zwischen einerseits und andererseits hin und her. Er schwang sich zu hohen Ansprüchen auf und stellte sie selten an weniger als alle Menschen und die ganze Welt. Seine Frau soll er betrogen haben wie jeder Kreissparkassenangestellte. Einen „echt highen Typen“ hat ihn sein Mitstreiter Michael Baumann genannt, einen, der „wirklich voll drauf“ war. Zuweilen muss Dutschke wie im Fieberwahn unterwegs gewesen sein, von revolutionären Ideen infiziert. Nachts hat er gelesen, statt auszuruhen. Marx, Lenin, Kautsky, Luxemburg, Marcuse, Adorno, Bloch. „Wenn einer die Welt verändern will, dann hat er eben viele Termine“, hat Günter Gaus 1967 über ihn gesagt. Nachdem er es endlich geschafft hatte, mit Dutschke einen Termin für ein Interview auszumachen.
Der versicherte, verlässlich zu sein, es sei denn, eine politische Aktion käme dazwischen. Er soll elektrisierend gewesen sein. Ein begnadeter Zuhörer. Eine Seele von Mensch. Am Gründonnerstag des Jahres 1968 wurde er auf dem Kurfürstendamm von drei Revolverkugeln niedergeschossen. Nachdem die Ärzte zwei aus seinem Kopf entfernt hatten, war er Ostersamstag außer Lebensgefahr. Die Theorien und Ideen, Jesus und Che, die Namen seiner Freunde und seiner Frau Gretchen waren auch raus aus seinem Kopf. Nur an einer Frage der Ärzte ist er nicht gescheitert. Die Antwort hieß: „Rudi.“
Rudi hat noch einmal von vorn angefangen. Geplagt von epileptischen Anfällen, hat er sich sein Leben zurückerobert, seine Pläne, sein Tempo. Am 24. Dezember 1979 ist er in Dänemark an den Folgen des Attentats gestorben. Nicht in Berlin. Hier, wo der Dreh- und Angelpunkt seines Lebens war, konnte er nach den Schüssen nicht mehr leben.
Mit Frau und Kindern ist er durch Europa gereist, hat nur schwer Exil gefunden. Es gibt ein Foto von Rudi Dutschke, da sitzt er neben seinem Freund Gaston Salvatore. Er umschlingt Salvatore mit dem rechten Arm, zieht ihn zu sich ran. Er redet auf ihn ein. Vermutlich geht es um Revolution. Das Wesentliche aber ist Dutschkes linke Hand. Sie hält die Rechte des Freundes. Es ist kein verschwörerischer Händedruck unter Männern, es ist gar kein Druck. In den Händen liegt Zärtlichkeit. Reine Zuwendung. Sie sind der wahre Vordergrund des Bildes. Von hinten, vom Poster an der Wand, schaut Che Guevara Dutschke über die Schulter.
Heinz Florian Oertel ist ein großer Mann. In zweifacher Hinsicht. Er ist hoch gewachsen. Zu den meisten Menschen, denen er ein Mikrofon hingehalten hat, musste er sich herabneigen. Obwohl es sich um Athleten handelte. Sporrrtler, sagt Oertel. Mit seinem „rrr“ zieht er das Wort in die Länge, verschafft ihm Aufmerksamkeit, als stecke in ihm das einzig Wahre. Zudem ist Oertel ein Großer seines Geschäfts. Eine Sportreporterlegende. In der Lobby des Hotels am Berliner Alexanderplatz kennt ihn jeder Angestellte. Er kommt nicht auf geradem Wege vom Eingang ins Restaurant, weil Gäste sich erkundigen, wie es ihm geht. Er nimmt einer Dame die Jacke ab, setzt sich erst, wenn sie Platz genommen hat. Er trinkt Wasser. Bringt klare Sätze zusammen zu einer reinen Melodie. Er ist längst im Rentenalter. Wendig bewegt er sich durchs Gespräch. Er ist immer auf Sendung. Dass es neben Jesus Christus für den Luckenwalder Oberschüler Rudi Dutschke noch einen anderen Helden gab, hat Heinz Florian Oertel erst vor ein paar Jahren im Spiegel gelesen. Dass er selbst dieser Held war, hat ihn wohl nicht verwundert. Schon als Dutschke ein Kind war, in den 50er-Jahren, haben Millionen Oertels Radioübertragungen gehört. Er wurde für den Nationalpreis vorgeschlagen. Später war er 17 Mal Fernsehliebling der DDR. „Absoluter Rekordmann“, sagt er. Der Sport hat sich seit den 50ern stark verändert. Nicht nur Hundertstelsekunden sind ins Land gegangen. Oertel kennt die fatale Dreiecksbeziehung von Körpern, Medizin und Material. „Rrrekordmann“, sagt er, so wie er es immer gesagt hat. Seine Sprechweise hat noch was von der Faszination der damaligen Zeit. Es war die Radiozeit, in der Rudi Dutschke ihn verehrt hat. Reporter mussten zusammenhängend und viel reden. Sie mussten beschreiben, wie Athleten gekleidet waren und sich bewegten, wie sich das Wetter anfühlte, der Boden, die Luft. Die Beschreibungen mussten zünden, damit Funken aus den Radios in die Wohnzimmer sprangen. Seit 1952 hat Heinz Florian Oertel jedes Jahr im Frühling die Friedensfahrt übertragen. Er war wie im Rausch. Sobald ihn das Publikum entdeckte, hat es frenetisch Beifall geklatscht. Oertel hat an der Freien Universität Berlin Rhetorik gelehrt. Derzeit lehrt er in Göttingen. Sein Übermaß an Erfahrungen stellt er gern zur Verfügung, aber auch seine ehrliche Meinung lässt er mit Vergnügen auf angehende Reporter los. „Das Wesentliche ist Talent“, sagt er. Talent haben nicht viele. Also wollen nicht viele Oertels ehrliche Meinung hören. Seit es das Fernsehen gibt, werden junge Leute Sportreporter, weil sie sich für Sport interessieren.
Selten hat jemand zu Oertel gesagt: Ich kann Leute begeistern. Ereignisse mit den Augen zu verschlingen und sie, auf eigene Weise verarbeitet, durch den Mund der Öffentlichkeit wieder darzubieten, das ist es, was Heinz Florian Oertel und Rudi Dutschke verbindet. Männer wie sie sind aus Radiozeiten hervorgegangen. Oertels Hörer hatten keine andere Chance, als ihm zu glauben. Er ist an ihnen gewachsen. Dutschkes Reden sind nicht allzu viele gefolgt. Im Gegenteil. Er ist an den Menschen gescheitert. Begegnet sind die beiden Männer sich nie. „Ich hatte großen Respekt vor ihm“, sagt Oertel über Dutschke, den er in den 60ern im Fernsehen sah. „Auch wenn ich nicht alles gebilligt habe, was er wollte.“
Oertel, den man mit 17 als Soldat in Hitlers Armee gezogen hatte, war absolut gegen Gewalt. Er wusste genau, was seine Eltern in der Nazizeit getan hatten. Er hatte das Gefühl, es von allen Leuten in seinem Umfeld zu wissen. Er hatte das Gefühl, die DDR mistete Nazideutschland aus. Als junger Reporter hat er in Auschwitz und Theresienstadt Halt gemacht.
Die hoffnungsvolle Nachkriegszeit war für ihn die schönste. Sie ging bis zum Mauerbau. Von allen Westreisen ist Oertel ohne Zögern zurückgekehrt. Seine erste Reportage war Feldhandball, 1949, Luckenwalde gegen Senftenberg. Die Spielerinnen lebten von Lebensmittelkarten. Das Tempo auf dem Feld war wie bei einer Beerdigung. Es fiel ein Tor. „Ehe ich Pelé, Maradona, Zatopek, Clay, Schur und Beckenbauer kennen lernte, habe ich die Torschützin Gisela Weidner aus Luckenwalde gekannt“, sagt Oertel.
Er kennt sie noch. Er ist Patriot. Mit 17 hat man ihm erklärt, es gebe nichts Schöneres, als fürs Vaterland zu sterben. Jetzt ist er über 70. Er hat mehrere Vaterländer überlebt. Wenn es Heimat gibt, dann sind das Menschen. Torschützen, Mannschaften. „Mein Patriotismus ist Zusammengehörigkeitsgefühl“, sagt er. Pfarrer Helmut Sell übernahm die evangelische Sankt-Petri-Gemeinde in den 70er-Jahren, als Rudi Dutschke, einst ein sehr aktives Mitglied der „Jungen Gemeinde“, ihr nicht mehr angehörte. Luckenwalde hatte 23.000 Einwohner, viel Industrie, war Arbeiterstadt. In Sells Kirche kamen 800 Menschen. Zu Weihnachten saß Dutschke unter ihnen: ein berühmter Mann, der mit wildem Blick, kariertem Hemd, abgewetzter Lederjacke bereits in die westeuropäische Geschichte eingegangen war.
Bevor er in den Osten fuhr, zog er sich stets um. Mit gestärktem Hemd, Bügelfaltenhose und möglichst Krawatte fiel er in der Christvesper zwar genauso auf, aber um seine Person ging es ihm nicht. Beim Abschied hielt er schweigend die Hand des Pfarrers. Es ging ihm um die Heimat. Heimat ist, wo man begonnen hat zu glauben. „Die sollen sich nicht schämen für mich in Luckenwalde“, soll er gesagt haben. Sie waren weit davon entfernt.
Sie haben Dutschke vergessen. Nicht vorsätzlich. Sie haben nur ein bisschen mit ihren Erinnerungen geschlampt. Und sich kaum gegen das Vergessen gewehrt. Als sie zum Beispiel ihre Synagoge restaurierten, hat ein Maler versehentlich den Davidstern in der Kuppel überstrichen. Es wurde Farbe angerührt, um den Stern nachzumalen, aber das Blau gelang irgendwie nicht. Da haben sie es eben gelassen. Dummerweise hat Pfarrer Sell bei der Eröffnungsfeier hoch geschaut. Und protestiert. Nicht alles ist ihnen durchgegangen. Sell konnte seine Schäfchen stets an den Fingern abzählen. Es waren nie viele Kinder in der „Jungen Gemeinde“.
Er hat versucht, welche von zu Hause abzuholen, aber viele Eltern haben ihn gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Kontakt zur Kirche war in der DDR nicht gewünscht. Den Kindern, die dennoch zu ihm kamen, hat der Pfarrer das freie Denken gepriesen. Und sie sollten so frei auch reden. Es bot sich genug Gelegenheit, das zu üben. „Wir hatten immer jemanden gegen uns, das hat uns stark gemacht“, sagt Sell.
Jugendarbeit war der Kirche in der DDR verboten. Man hat sich zur so genannten Rüstzeit getroffen, aber nicht nur Bibelstudium betrieben. Des Pfarrers jüngste Tochter, die erst nach der Wende konfirmiert wurde, war im „Teeniekreis“. Die Kirche mag nicht mehr „Junge Gemeinde“ sagen. Helmut Sell schon. Wenn überlegt wird, wie man etwas von außen beschreibt, ist das kein gutes Zeichen für den Inhalt. Die Tochter ist mit dem „Teeniekreis“ viel verreist. Sie hatte immer viel Gepäck, aber nie eine Bibel dabei.
Helmut Sell ist im Vorruhestand. Die drei evangelischen Kirchengemeinden von Luckenwalde sind fusioniert. Aus Kostengründen. Es gibt jetzt nur noch einen Pfarrer. Sell kümmert sich weiter um die Seelsorge. Der ganze Verwaltungskram, der nach der Wende aus ihm einen Spezialisten für Ordnung und Sicherheit, Grundstücksrecht, Pacht, Mieten, Bauliches und Finanzen gemacht hat, fehlt ihm nicht gerade. Er lebt mit einer Kirchenmusikerin in einem gemütlichen, weihnachtlich geschmückten Haus am Waldrand hinter einem bunten Bleiglas-Terrassenfenster. Wer ihn braucht, wählt seine Telefonnummer. Dann fährt er los.
Als die Luckenwalder die Steuerkarten der Bundesrepublik bekamen, zeigte sich, dass plötzlich doppelt so viele Menschen zur Kirche gehörten als bisher. Ein Mann war lange in der FDJ, dann arbeitslos und hatte endlich einen Job in der kirchlichen Jugendarbeit in Berlin gefunden. Es sollte vor allem schnell gehen, weil Jobs auf niemanden warteten. „Taufe ist ein Bekenntnis“, hat Helmut Sell erklärt. Und sich verweigert. „Der Mann hat mich verstanden“, sagt er.
Was aus ihm geworden ist? Er hat den Job bekommen. Ein anderer Pfarrer hat ihn getauft. Luckenwalde hat seine Industrie verloren, seinen Charakter, ist nicht mehr die Stadt, die es mal war. Von 15.000 Industriearbeitsplätzen gibt es noch etwa 1.500. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, ist den Bewohnern Heimat flöten gegangen. Es gibt ein schönes Zentrum, den sanierten Petrikirchplatz, eine Therme, den Fußballverein, dessen Präsident lange Zeit einer von Dutschkes Brüdern war. Selbstverständlich gibt es auch eine Zukunft. Es gibt 20 Prozent Arbeitslose. Auf den Straßen sind Schüler und alte Leute unterwegs. Es fehlt Bewegung in den Generationen zwischen ihnen.
Luckenwalde hat keine Mitte. Es wankt. Es versteht sich nicht gut darin, sich festzuhalten. „Die Menschen haben den Boden unter den Füßen verloren“, sagt Pfarrer Sell. „Das konnte ihnen nur passieren, weil sie nicht glauben.“ Zu DDR-Zeiten ist ein schweigsamer junger Mann bei ihm auf dem Kirchhof untergetaucht. Er hatte keine Arbeit und mit Pfarrern nichts am Hut. Sell hat ihn beschäftigt. Also war Sell für den Mann die Ausnahme. Ein paar Jahre nach der Wende wurde direkt vorm Pfarrhaus ein Schwarzer verprügelt. Und dieser Mann war mit dabei. Helmut Sell ist auf die Straße gerannt, rein in den prügelnden Haufen, hat sich dicht vor ihn gestellt und gesagt: „Du wagst es nicht!“
Dann ist die Kripo zu Sell gekommen. Er hat keine Auskunft gegeben. „Ich hab bei den Schlägern noch eine Chance“, sagt er. „Im Polizeiverhör hören die gar nicht erst zu.“ Ihm scheint, als wäre der Mann, den er einst beschäftigt hat, in einer rechtsradikalen Partei. Wenn sie sich begegnen, spricht der plötzlich. Über Deutschland. Da sprudeln die Argumente. Haarsträubende Argumente. Der Pfarrer nutzt seine Chance. Hat seine liebe Mühe. Der Mann ist kein Trinker mehr, fährt sauber angezogen mit dem Auto rum, redet und redet. Er hat einen Glaubensersatz gefunden.
Die Worners waren Kommunisten. Sie sind vor den Nazis nach Prag, dann nach England geflohen. Aus dem Exil haben sie zwei Söhne mitgebracht. Grischa, einer der beiden, ist Anwalt. Er hat eine Kanzlei in Berlin. Mitte der 60er-Jahre, als Rudi Dutschke an der FU zugange war, studierte Worner an der Humboldt-Universität im Osten. 1965 beschloss die SED, rigide das Schaffen der DDR-Filmindustrie zu kontrollieren.
Für die Defa war das fataler als der Mauerbau. Der wiederum, davon war Worner überzeugt, war nötig, um ungestört den Sozialismus errichten zu können. 1967 schlug Israel im Sechstagekrieg seine Gegner, eroberte Ostjerusalem, das Westjordanland, die Golanhöhen, den Sinai. Die DDR war einseitig auf Seiten der arabischen Staaten. 1968 machte der Warschauer Pakt den Prager Frühling zunichte. Grischa Worner kannte sich schon im Völkerrecht aus. Es gab keine Erklärung her. Auch schien es ihm moralisch verwerflich, dass schon wieder deutsche Soldaten in Prag einmarschierten. Dann protestierten auch noch im Westen die Studenten. Zumindest den Feind USA hatte der Osten mit ihnen gemein. „All die Ereignisse haben uns nachdenklich gemacht“, sagt Worner. Aber das Nachdenken war nicht leicht. Es war in die große Sache verwickelt: in den Sozialismus. Der nahm sich zuweilen größer aus als der Rest der Welt. Wer nachdachte, kam womöglich zu dem Schluss, im Interesse der großen Sache eine kleine wie Prag 1968 zu akzeptieren. So wie Worner, das Flüchtlingskind, dem die antifaschistische Heimat viel wert war.
Dutschke muss den Verlust seiner Heimat als Reichtum empfunden haben. Nichts war mehr undenkbar. Vietnam und Amerika lagen um die Ecke. Das Springer-Hochhaus war nicht hoch. Eine spontane 800-Leute Demo, eine Versammlung in Paris jederzeit drin. Grischa Worner hoffte, dass von Dutschke, der den Sozialismus in der DDR kritisierte, etwas über die Mauer schwappte. Er hoffte auch auf Cohn-Bendit. Auf Honecker. Jahrzehnte später setzte er auf Gorbatschow. Worner wünschte sich neue Leute, neue Ideen, neue Parteitagsbeschlüsse. Er war Jugendrichter. Den sozialistischen Menschen, das hat er im Gerichtssaal erfahren, gab es nicht. Er wünschte sich das Beste für die große Sache. Als Anwalt hat er Dissidenten verteidigt.
Er war auch mal bei der Stasi. Ist für die Aufklärung nach Westberlin gefahren. Niemand hat bis heute in seinen Akten eine Aussage von ihm gefunden. „Es gibt keine“, sagt er. Was hat er in Westberlin gemacht? Es war 1968. Er geriet mitten in Dutschkes Demonstrationen. „Es ist leicht, Revolution zu machen“, sagt er über ihn, „schwieriger jedoch, danach den Staat zu lenken.“Als Torsten Dutschke klein war, kam manchmal Onkel Rudi zu Besuch. Zusammen mit Torstens Vater Günter, mit Onkel Helmut und Onkel Manfred saß er in der Stube. Es wurde geredet und geredet. Das Wort Sozialismus ist oft gefallen. Rudi war anders als die Westverwandten, die sonst so nach Luckenwalde kamen. Er hat politische Gespräche mitgebracht. Oder Bücher. Auch sein eigenes. Es war ein lustiges Buch. Es hieß „Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen“.
Rudi schien mehr zu wissen als andere. Zum Beispiel hatte niemand Torsten Dutschke gesagt, dass mit Lenin was nicht stimmte. Erst 1987, da war er an der Ingenieurhochschule für Landtechnik in Wartenberg, hat er das Buch gelesen. Vielleicht weil an der Hochschule zum ersten Mal jemandem sein Nachname aufgefallen war. Vielleicht, weil es ihm komisch vorkam, dass er über Onkel Rudi kaum mehr wusste als andere. Dutschke hat Dutschke gelesen. Es war nicht leicht. Den konnte doch niemand verstehen, hat er gedacht. Ein ganzes Stück vorm Ende hat er aufgegeben. Alle Dutschkes außer Rudi sind auf dem Boden der Tatsachen, in die sie hineingeboren wurden, geblieben. Helmut ist täglich ins Gerätereglerwerk Teltow gefahren. Günter war Sektionschef des Luckenwalder Fußballvereins. Er ist früh gestorben, Pfarrer Sell hat ihn beerdigt. Opa Dutschke hat bei seinen Westreisen die Biografien über Rudi durch den Zoll geschmuggelt. Manfred Dutschke sitzt in der CDU-Fraktion der Stadt. Im Stadtplanungsamt arbeitet Torsten. Er hat dieselben dunklen Brauen und Haare, die borstig nach oben stehen wie auf den frühen Rudi-Bildern. Luckenwalde ist ihm zuweilen zu klein und spießig, aber weg will er nicht. Er ist im Vorstand des Fußballvereins. „Und ich wähle links“, sagt er.
Wer auf der Homepage der Stadt zu Rudi Dutschke will, bekommt zwei Angebote. Eins ist Bruder Manfred, der Politiker. Das andere ist das 1910 erbaute Friedrich-Gymnasium in der Parkstraße. Vor ein paar Jahren ist Abiturienten die Idee gekommen, es nach Dutschke zu benennen, der hier Schüler war. Es gab Trubel und kaum Jubel. Torsten Dutschke war der Schulname nicht wichtig, aber er wollte Onkel Rudi wie ein Stück deutsche Vergangenheit behandelt wissen. Das wäre was gewesen! Spätestens als die Presse aus Hamburg kam, war zur Diskussion niemand mehr bereit. „Rudi war Luckenwalder, meinen die Leute, doch hat er Westgeschichte gemacht“, sagt Torsten Dutschke. „Westgeschichte will sich hier niemand überhelfen lassen.“
Dass Michael Sontheimer 1993 das taz-Haus in der Kreuzberger Kochstraße nach Rudi Dutschke benennen wollte, war keine überraschende Idee. Sie lag nahe. Sontheimer meint, dass die 68er Studentenbewegung die Bundesrepublik überhaupt erst zu einem Flecken Erde gemacht hat, auf dem es sich leben lässt. Außerdem war Ostern 1993 genau 25 Jahre nach dem Attentat. Sontheimer zog in den Kampf, die Idee durchzusetzen. Günstigerweise war er gerade in der taz der Chef.
Nachdem er die Geschäftsführung begeistert hatte, hat er sich um die Gegner in der Redaktion nicht geschert. Frauen schlugen Frauennamen vor. Die Kulturredaktion nannte sich aus Protest „Oswald-Kolle-Oase“. Redakteuren war Dutschke eine Nummer zu groß, zu fremd, zu fern. Sontheimer hatte viele Gegner. Wenn er heute über sie spricht, hört es sich an, als wären es ihm noch zu wenige gewesen. Die taz-Gründer, zu denen er gehörte, hatten ein Gegenstück zur Springer-dominierten Öffentlichkeit schaffen wollen. Ihre Zeitung, die in Blickweite des Axel-Springer-Hauses Quartier bezog, war ein Spätprodukt der 68er Studentenbewegung. Sontheimer lebte mit Redakteuren in einer WG. Für die taz-Idee war nie Feierabend. Man hat sie mit nach Hause genommen.
1993 hatte Sontheimer, der zwischendurch bei der Zeit gewesen war, längst eingesehen, dass eine Zeitung die Welt nicht verändert, sondern nur eines von vielen Spiegelbildern der Gesellschaft ist. Vielleicht hat es ihn deshalb so gereizt, den Springer-Leuten ein Rudi-Dutschke-Haus vor die Nase zu setzen. Er hat den Text der Gedenktafel formuliert und zu einem Fest geladen. „Es war das einzige Mal, dass es die taz in die New York Times geschafft hat“, sagt er.
Heute arbeitet er beim Spiegel. Zwischen den Silberringen an seinen Fingern klemmt eine Zigarette. Die Beutel mit schwarzem Tee, den er aus England kommen lässt, landen nach dem Ziehen im Aschenbecher. Er hat zu Hause Papier gefunden, auf dem etwas über die Namensgebung steht, und legt es auf den Tisch. Darüber breitet er die Seite vier der New York Times von damals. Zwei Fotos stehen über dem Artikel. Auf dem kleinen ist Red Rudi. Auf dem großen Michael Sontheimer.
Die Zeitungsseite ist vergilbt, zerfällt demnächst zu Staub, trotzdem landet auf ihr jetzt auch noch ein Buch mit Texten von Dutschke. Und Anstreichungen von Sontheimer. Irgendwann ist Kaffee zwischen die Seiten gelaufen. Der Umschlag zeigt ein Foto von der Berliner Demo gegen den Schahbesuch im Juni 1967. Jemand wird von Polizisten verprügelt. Auf dem Tisch in Sontheimers schönem Büro sieht es aus, als wäre Revolution.
Elke Schmitter war 1993 in der taz Co-Chefin und hat ihn deshalb unterstützt. Prinzipiell war es ihr ziemlich fremd, ein Haus zu taufen. Auch war sie Dutschke nie begegnet, im Gegensatz zu Sontheimer, der in den späten 70ern nach einer Demo in Bonn mit ihm auf dem Rasen gesessen hatte. Zwischen Schmitter und Dutschke gab es keine Berührung. „Er war halb nah, halb fern“, sagt sie.
Für die Namensfeier hat Sontheimer eine Kassette mit Popmusik aus den 60ern gebastelt. Es gab ein Buffet, Reden, SDS-Leute waren da, Gretchen Dutschke mit den drei Kindern. Dutschkes Freund Bernd Rabehl soll, auf einem Stuhl stehend, gesprochen haben. Nach einem Versprecher, den Sontheimer als „hammerhart“ in Erinnerung hat, soll die Rede abrupt zu Ende gewesen sein. „Und wie toll der sich fand!“, sagt Elke Schmitter. „Man raunte mir zu, das sei ein ganz Großer. Ich sah aber nur einen 50-Jährigen, die personifizierte Vergangenheit. Ich fragte, was er Kluges gemacht habe. Eine Antwort habe ich nicht bekommen.“
Ein Jahr bevor Karsten Bretschneider zur Welt kam, wurde auf Rudi Dutschke geschossen. Nicht mal ein Jahr ist es her, da hat er beschlossen, sich mal damit zu beschäftigen, wer Dutschke eigentlich war. Seitdem hatte er noch keine Zeit. Karsten Bretschneider ist so einer, den man an Infoständen trifft. Den man auf politischen Veranstaltungen getrost ansprechen kann, weil er garantiert zu denen gehört, die zuständig sind. Er ist dunkel gekleidet, hat kurz geschorene Haare. Er lebt in einer WG mit sechs Leuten in einer Villa in Dresden. Die Zimmer sind kuschelig eng, der Weg übern Flur zum Klo saukalt.
Bretschneider hat Elektromotoren gebaut, Kranke gepflegt, ist die Marketingschiene gefahren und hat probiert, eine Künstleragentur zu sein. Er hat nie was unversucht gelassen. Wo er ist, ist es eng oder nicht das Richtige, jedenfalls kann er nicht lange bleiben. Er hat etwas Rastloses. Muss was tun. Die Bedingungen sind ihm nicht so wichtig. Was er bewirkt mit dem, was er tut? „Das kann man nie wissen“, sagt er. Bretschneider betrachtet die Welt, wie Dutschke es getan hat. Was er nicht versteht, versetzt ihn in Bewegung. Wie sich die Globalisierung vollzieht, das kann er nicht nachvollziehen. Sie orientiert sich an den Gewinninteressen des Kapitals. Nach seiner Erfahrung wäre es vielmehr nötig, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie und umweltgerechtes Handeln zu globalisieren.
Vor drei Jahren hat Bretschneider bei Attac angefragt, ob es was zu tun gäbe für ihn. Mit vier anderen Dresdnern hat er eine lokale Gruppe gegründet. Sie sind etwa 50 Leute. Um mit den anderen Mitgliedern des Netzwerks bundesweit in Verbindung zu bleiben, nutzen sie das Internet. Um zu wissen, was los ist in der Welt, nutzen sie es auch. Karsten Bretschneider, dessen Auftritte als Attac-Aktivist vor allem in Vorträgen und Seminaren bestehen, wo er über Globalisierung, Ökologie, Gerechtigkeit spricht, hat sich in den letzten drei Jahren viel Wissen anlesen müssen.
Aber es gibt kein Buch, das ihn geprägt hat. Ihm fallen überhaupt keine Buchtitel ein. Keine Autoren. Das Internet ist ein Zauberding. Es versorgt die Kämpfer von heute, damit sie sich zurechtfinden. Sie können neue Wege nehmen, aber sie laufen niemandem mehr nach. Sie zitieren keine Textstellen. Sie bekommen keine glasigen Augen, wenn sie im Anschluss den Namen des Autors nennen. Ihre Ideen rascheln nicht wie Papier. Es fehlt ihnen der intime Schein der Nachttischlampe. Es fehlt der geistige Handschlag mit dem Urheber. Das Bedingungslose der Hingabe. Liebe.
Heinz Florian Oertel und Rudi Dutschke sind aus der Radiozeit hervorgegangen. Oertel: „Das Wesentliche ist das Talent“
Wenn Karsten Bretschneider an einem Infostand steht, fragen die Leute ihn, was Attac für einen Plan hat. „Es gibt keinen Plan“, sagt Karsten Bretschneider. Aber die Leute wollen die Lösung für ihre Probleme wissen. Bretschneider, für den die Welt so vielfältig ist wie die Suchergebnisse bei Google, antwortet: „Die Lösung ist, einzusehen, dass es keinen Plan gibt.“
Als im Sommer die Dresdner Demonstrationen gegen Hartz IV begannen, hat sich Attac zu den Organisatoren gesellt. Die Redner, die er ans Mikrofon gebracht hat, haben darüber gesprochen, dass es anderen Menschen auf der Welt viel schlechter als den Deutschen geht. Dass wollte keiner hören. Es ging den Demonstranten um ihre Fragebögen und konkrete Summen. Bretschneider wollte ihnen Dampf machen. Sie wollten ablassen. Im April dieses Jahres sind Attac und anderen Organisatoren 500.000 Menschen auf eine Demo gegen den Sozialabbau nach Berlin gefolgt. „Es ist eine Illusion, zu glauben, dass sich was ändert, wenn man die Masse dazu bringt, sich zu bewegen“, sagt Bretschneider. Er hat in den Sachsenwerken gearbeitet. „Was die Arbeiter in Bewegung gehalten hat, war das Meckern“, sagt er, „leise, nicht laut.“
1989 waren die Kollegen plötzlich alle auf der Straße. „Kurze Zeit später haben sie nach der erstbesten Möglichkeit gegriffen, die sich geboten hat: Systemwechsel.“ Im Krankenhaus, wo Bretschneider dann Pfleger war, drehten sich die Probleme der Leute um Krankheit und Tod. „Die Patienten wie die Angehörigen hatten Probleme, sich darüber klar zu werden, was sie eigentlich gerade erlebten. Wie sie mit ihrer Situation umgehen sollten“, erzählt er. „Die meisten konnten die Fragen nicht beantworten.“
Seit knapp vier Jahren gibt es in der Luckenwalder Goethestraße einen städtischen Jugendtreff. Der hat einen großen Saal mit Tischtennisplatte, Billard, Kicker, einem Tresen und einer Bühne. Es gibt einen Kraftraum, ein Volleyballfeld, einen Garten, eine Küche und einen Fernseher.
Der Treff ist wie ein Zuhause. Er steht für alle Kinder der Stadt offen. Es kommen lediglich 20 bis 25. Sie sind Realschüler, ein paar Gymnasiasten. Sie schließen sich in Cliquen zusammen, drehen Zigaretten und spielen Karten. Sie fahren ohne Führerschein Moped. Einer fährt los und die anderen warten, dass er unbehelligt zurückkehrt. Während sie warten, kommt eine Polizistin durch den Vorgarten. Sie starren sie an. Die Polizistin geht ins Haus, kommt wieder raus. Es ist der absolute Kick. Sie geht lächelnd an ihnen vorbei. Dann fährt der Nächste. Die anderen sitzen schweigend, fast eine Stunde, und warten.
Sascha Wittig ist der Chef des Jugendtreffs. Jedes Jahr will die Stadt das Konzept seiner Arbeit haben. Er schreibt eins. Im Grunde aber besteht das Konzept von Sascha Wittig darin, für die Kinder ansprechbar zu sein. Die Tür zu seinem Büro steht weit offen, Tassen sind da, Tee ist gekocht, Weihnachtsmischung. Wittig braucht das Vertrauen der Kinder, um mit ihnen überhaupt so was wie Jugendarbeit machen zu können. Sie geben es ihm nicht ohne weiteres. Auch kann er es nur schwer abrechnen, denn mit dem Vertrauen kann es Jahre dauern.
Wittig könnte Gesprächsrunden machen. Er könnte ein Thema nennen, es fallen ihm viele ein: der Stress in der Schule, der Zoff zu Hause, die Frage, welchen Beruf man eigentlich demnächst wählen soll? Aber die Kinder sagen bei jedem Thema, das hätten sie schon in der Schule durchgekaut. Als wäre das Leben Kaugummi. Als würde es sich nicht wirklich ändern, weil alle doch nur drauf rumbeißen.
Wittig hat Gesprächsrunden gemacht. Jetzt sagt mal jeder was!, hat er gesagt. Das war dann alles, was gesagt wurde. „Sie müssen sich ständig erklären und rechtfertigen: vor Lehrern, vor Eltern“, sagt Wittig. Er hat festgelegt: Wer ins Haus kommt, muss erst mal Guten Tag sagen. Es ist die nunmehr einzige Regel, die die Jugendlichen zum Sprechen zwingt. Sascha Wittig hat sich damit abgefunden, über viele der Kinder kaum etwas zu wissen. Sie öffnen sich nicht. Aber seine Regel halten sie penibel ein.
„Was willst du nun werden?“, fragt er einen Jungen beim Tee. „Arbeitsloser“, antwortet er. Der Nächste sagt: „Fußballprofi.“ Der Übernächste auch. Halten die Wittig für blöd?
Sie wissen, dass er den örtlichen Fußballverein trainiert. Dass er weiß, wie Nachwuchs gesiebt wird, und dass sie da alle keine Chance haben. Wittig würde gern sauer sein, aber er kann nicht. „Die wollen nicht unbedingt anderen was vormachen“, sagt er. „Die täuschen bewusst sich selbst.“ Er geht zum Arbeitsamt, organisiert Termine zur Berufsberatung. Nicht einer der Jugendlichen nimmt einen wahr. „Ihr seid Schlampen!“, schimpft er. „Mach dir nicht so viele Gedanken“, trösten sie ihn.
Alle zusammen haben sie wochenlang einen Weihnachtsmarkt vorbereitet. Am Tag bevor er stattfand, haben ein paar Jugendliche gesagt: Wir kommen nicht, wir sind auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin. „Sie sind seit Jahren täglich hier, aber sie identifizieren sich nicht mit dem Haus“, sagt Wittig. „Wenn nicht mit diesem Haus, dann wohl mit nichts.“
Er war selbst längst aus der Schule, da hat er erfahren, dass Rudi Dutschke, der Studentenführer aus Westberlin, Luckenwalder war. Aus der Zeitung oder so. Ja, klar, sagte seine Mutter mal, der Rudi ging mit mir in eine Klasse.
Da hatte jahrelang dicht neben ihm eine Geschichte gehockt, die ihn was anging, aber er hat sie nicht bemerkt. War er abgelenkt worden? Belogen?
War er wie die Kinder in seinem Jugendtreff damit beschäftigt, den Tag rumzubringen? Hat ihn die Frage beansprucht, was er mal werden soll? Er weiß es nicht. Er weiß nicht einmal, ob er die Sache mit dem Studentenführer wirklich bedauern soll. Für ihn waren die Dutschkes immer gute Luckenwalder Fußballer gewesen.