Fünf Minuten pro Person
HAUPTSTADT-ÖDNIS „In Berlin“ von Michael Ballhaus und Ciro Cappellari zeichnet ein frappierend langweiliges Bild der Stadt, die derzeit so gefeiert wird
Selbst eingefleischte Berlin-Hasser werden zugeben müssen: Diese Hommage hat die Stadt nicht verdient. So langweilig kann sie doch gar nicht sein.
Was ist da schiefgelaufen? Vor ein paar Jahren bekam Michael Ballhaus vom RBB das Angebot, einen Dokumentarfilm über seine Geburtsstadt zu machen, die nach über zwei Jahrzehnten Arbeit in der amerikanischen Filmindustrie wieder seine Heimat ist. Keine Frage, nur wenige Kameraleute können ein ähnlich beeindruckendes Lebenswerk vorweisen: Seine Zusammenarbeiten mit Rainer Werner Fassbinder und Martin Scorsese gehören in den Olymp der Filmgeschichte. Großartige Regieerfahrung oder Dokumentarfilm-Vorwissen hat er allerdings nicht. Also holte er den 25 Jahre jüngeren Deutschargentinier Ciro Cappellari mit an Bord, der als Kameramann schon bei einigen Dokumentarfilmen mitgewirkt hat und auch Regieerfahrung (u. a. ein „Tatort“) vorweisen kann. Vor allem sollte er ein paar jüngere Leute in den Film holen, denn der 73-jährige Ballhaus konnte sich eigentlich nur vorstellen, einen Film über seine Berliner Freunde zu machen – alle nicht mehr die Jüngsten und alle längst arriviert. Und so wurden immer mehr Leute vor die Kamera geholt.
Erst mal ist nichts falsch daran, sich einer Stadt über deren Bewohner zu nähern, aber müssen es gleich 20 sein? Bei etwas über 90 Minuten Spielzeit sind das nicht mal fünf Minuten pro Person. Manche werden arg lieblos behandelt, wie der obligatorische Kiez-Kioskbesitzer, ein rappender Realschüler, oder Frank-Walter Steinmeier. Sein Auftritt ist einer der unfreiwillig humoristischen Höhepunkte des Films. Er erinnert in seinem Pathos an den legendären SPD-Wahlkampfspot von 1994, in dem Scharping, Lafontaine und Schröder in Zeitlupe durch einen Säulengang wandeln, während aus dem Off tönt: „Deutschland soll wieder ordentlich regiert werden.“ Selbst abgemildert graust einen diese Art der Wahlwerbeästhetik.
Am Ende kommt dieses Sammelsurium von Impressionen weder den Menschen noch der Stadt wirklich näher. Cappellari und Ballhaus haben einen braven Imagefilm für die deutsche Hauptstadt gemacht. Dass man dafür an der Kinokasse bezahlen soll, ist eigentlich ein Nepp. Dabei hätte „In Berlin“ spannend werden können, wenn die beiden Filmemacher ihren kosmopolitischen Blick als Chance gesehen hätten. Cappellari spricht leider nur im Presseheft über den „Geist einer wirklichen Metropole“, den seine zweite Heimat Buenos Aires atme. Eine Stadt, in der die Straßen voller Menschen seien, die hektisch ist, dreckig und laut. Er findet Berlin „zu ruhig“ und sehnt sich nach mehr Menschen – eine Million Ausländer mehr könnte die Stadt seiner Ansicht nach schon vertragen.
Vielleicht hätte ein filmischer Vergleich seiner beiden Heimatmetropolen uns Deutschen ja die Augen geöffnet, die verklebt worden sind vom Süßholzgeraspel all der begeisterten Berghain-Easyjetsetter und anderer Hipness-Touristen. Vielleicht ist Berlin ja wirklich nur das, was es „In Berlin“ ist: eine im Weltvergleich mäßig aufregende, mäßig großstädtische Paradiesinsel für das Ausleben mäßig origineller Lebensentwürfe. SVEN VON REDEN
■ „In Berlin“. Regie: Michael Ballhaus, Ciro Cappellari. Dokumentarfilm, Deutschland 2008, 96 Min.