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Archiv-Artikel

Unbürokratische Hilfe

Jenny De la Torre, Obdachlosenärztin

von GABRIELE GOETTLE

Jenny De la Torre, Dr. med., Obdachlosenärztin, Initiatorin d. Gesundheitszentrums für Obdachlose. 1960 Einschulung i. d. Antonio-Moreno-de-Caceres-Schule i. Ica (Peru). 1972 Abschluss d. Oberschule. 1973 Studium d. Medizin a. d. Universität San Luis Gonzaga de Ica. 1976 Delegierung z. Auslandsstudium i. d. DDR. 1977 Studium d. Medizin a. d. Karl-Marx-Universität Leipzig, Examen 1982. 1983–1990 HU Charité Berlin, Abteilung für Kinderchirurgie. 1986 Geburt des Sohnes. 1989 Facharztausbildung z. Kinderchirurgin a. d. Charité. 1990 Promotion Dr. med. summa cum laude. 1990 Gastärztin a. Landeskrankenhaus Salzburg. 1991 Beratungstätigkeit für „Schwangere und Mütter in Not“, Berlin. 1994–2003 Ärztin für Obdachlose i. Berlin. 1998 Lehrauftrag als Gastdozentin a. Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie (Fach Sozialmedizin) a. d. Charité Berlin. Sie erhielt für ihre Obdachlosenarbeit mehrere Preise u. Auszeichnungen, u. a.: 1997 Bundesverdienstkreuz; 1997 Ehrenbürgerschaft ihrer Heimatstadt Nazca (Peru); 2002 Goldene Henne, mit diesem Preisgeld gründete sie 2002 d. Jenny De la Torre Stiftung z. medizinischen Versorgung Obdachloser. 2003 Kündigung aus Protest gegen eine Kürzung ihrer Stundenzahl i. d. Obdachlosenpraxis. Planung z. Aufbau eines unabhängigen Gesundheitszentrums f. Obdachlose. 2004 wurde d. passende Haus gefunden u. mit d. Ausbau z. Gesundheitszentrum begonnen. Jenny De la Torre wurde 1954 i. Nazca (Peru) als Tochter eines Händlers geboren, sie ist ledig und hat einen Sohn.

Anfang Dezember fahren wir zum Treffen mit Frau Dr. De la Torre nach Berlin-Mitte in die Pflugstraße. Ein gut klingender Straßenname übrigens, für eine Adresse, an der etwas Umwälzendes stattfindet. Genau vor der Haustür hat die Straßenbahnlinie 6 ihre Endstelle. Das einzeln stehende Backsteingebäude ist zirka 100 Jahre alt, fünf Fenster breit, drei Stockwerke hoch. Im Erdgeschoss sind die Ziegel rötlich, darüber blassgelb. Alles scheint gut erhalten. Unter dem Dach ziert ein Ornamentfries die Fassade. Die ehemalige Schule – bis vor kurzem noch als Kindertagesstätte genutzt – hat den spröden Charme eines unverwüstlich soliden und klassisch schlicht verzierten Amtsgebäudes aus der wilhelminischen Zeit. Hinter dem Haus erstreckt sich ein weitläufiger Hof mit alten Bäumen, Beeten und Sträuchern, in einiger Entfernung stehen rosafarbene Wohnanlagen.

Das Haus wurde von der Stadt für zehn Jahre mietfrei zur Verfügung gestellt. Hier also soll ein unabhängiges Gesundheitszentrum für Obdachlose entstehen. Und dieses Zentrum, das sich seine Existenz außerhalb des staatlichen Sozialsystems erkämpfen muss, wird die Hilfe kostenlos, schnell, unbürokratisch und anonym leisten, was in Zeiten umfangreichster Datenerhebung bei jedem arbeitslosen Bürger geradezu ein Luxus ist. Eine kleine historische Anmerkung dazu: Ein paar Häuserblocks entfernt, in der Wiesenstraße in Wedding, wurde vor etwa 100 Jahren eines der ersten großen Nachtasyle eröffnet, die „Wiesenburg“. Sie war nicht staatlich und für die damalige Zeit außergewöhnlich liberal. Alle Leistungen waren kostenlos, die Polizei hatte keinen Zutritt, und es gab keine zwangsweise Erhebung der Personalien. Ganz anders als im städtischen Obdachlosenasyl „Die Palme“, wo die Polizei ständig anwesend war und ausnahmslos jede Person überprüfte und registrierte.

Der Empfang durch Frau Dr. De la Torre ist sehr herzlich, sie zeigt uns das Haus und wirkt, trotz dessen gähnender Leere, zuversichtlich. In den zukünftigen Praxisräumen im Parterre lagern ein paar gespendete medizinische Gerätschaften und Möbel. Eingerichtet und beheizt sind hier unten lediglich das kleine Büro und ein Aufenthaltsraum. Im Treppenhaus gibt es Fliesen auf dem Boden, mächtige alte Heizkörper, ein schönes schmiedeeisernes Treppengeländer und massive Steinstufen. Auch die oberen Räume sind leer und unbeheizt, sie sind mittelgroß, gut geschnitten und haben hohe Sprossenfenster. Hier sollen zukünftig die Speise- und Aufenthaltsräume sein, die Duschen, Toiletten und so weiter sowie Räume für die Dienste von Sozialarbeiter, Jurist und Psychologe. Eine Überraschung bietet die Kleiderkammer, sie ist bereits mit gespendeten Schränken, Wäsche und Kleidung recht gut versorgt und zeigt, dass die Dinge vorangehen.

Unten im Aufenthaltsraum sitzen zwei leidenschaftlich engagierte ältere Männer. Sie verehren die Ärztin und sammeln ehrenamtlich Spenden. Nachdem sie sich verabschiedet haben, erzählt Jenny De la Torre, wie alles kam.

Sie lacht und sagt: „Das war ja nicht geplant von mir. Nachdem ich meine Facharztausbildung und Promotion beendet hatte – das war 1990, kurz nach der Wiedervereinigung, wenn man so will –, bin ich ja nach Peru zurückgekehrt in der Hoffnung, dort als Kinderchirurgin zu arbeiten. Aber meine Ausbildung wurde nicht anerkannt, ich hätte noch mal zwei, drei Jahre … also bin ich zurückgekehrt – das alles mit meinem Sohn – und kam dann letztlich wieder nach Berlin. Ich habe mich bei der Ärztekammer angemeldet, fand aber keine Arbeit in der Kinderchirurgie. Einerseits hatte ich ja nur ein Visum, und dann wurden durch die Wiedervereinigung viele Polikliniken zugemacht, es war also schwer, eine Stelle zu bekommen. Durch Zufall bekam ich dann eine ABM-Stelle angeboten – ich wusste gar nicht, was das ist –, und die habe ich dann bekommen, obwohl sie für eine Gynäkologin war. ‚Schwangere und Mütter in Not‘, es gab schwangere Obdachlose ohne Schuhe … also da habe ich schon meine ersten Erlebnisse gehabt. Für mich war das sehr irritierend, zuerst dachte ich, ich bin im falschen Film, die ersten Tage und Wochen. Und im Rahmen dieser Stelle hat man eine Art Weiterbildung gemacht, Schuldnerberatung, Sozialhilfe und so weiter. Das war eine gute Grundlage für die Arbeit, auch später, bei den Obdachlosen. Wir mussten da ja unbedingt eine soziale Beratung machen, auch Rechtsberatung, denn viele Leute wussten von ihren Rechten gar nichts. Es hat mich gewundert, dass viele nicht mal wussten, dass sie sozialhilfeberechtigt sind. Denen mussten wir natürlich helfen.

Also, angefangen mit der Obdachlosenpraxis am Ostbahnhof haben wir 1994, und wir sind natürlich besorgt gewesen: Werden die Leute überhaupt zu uns kommen, werden sie Vertrauen haben? Wenn sie alkoholisiert sind, werden sie womöglich aggressiv und so weiter. Wie werden wir mit ihnen umgehen? Ich habe mir damals die Suppenküche für Obdachlose in der Wollankstraße angeguckt: Es war uns klar, die Leute werden Zeit brauchen. Und da habe ich gesagt: Wir machen es so, als wär’s eine ganz normale Arztpraxis. Die Leute werden gesiezt, nicht geduzt, ich will auch weiße Kittel. Und wir machen das anonym, wenn die Leute ihren Namen nicht nennen wollen. Sie sollen reinkommen, und dann sage ich: Guten Tag, setzen Sie sich, keine Angst, ich helfe Ihnen, ich bin keine Behörde, ich frage nicht nach Ihrem Namen. Und wenn wir dann so ein kleines Kärtchen anlegen wollten mit den Erkrankungen, dann haben wir gefragt: Darf ich das? Um sie nicht zu erschrecken.

Das hat sich natürlich rumgesprochen, sodass allmählich immer mehr Patienten kamen. Das hat dann ganz andere Probleme gemacht. Einmal waren es räumliche, wir hatten ja nur diesen kleinen Raum in der Rotkreuzstelle hinten drin, unten im Keller des Ostbahnhofes. Zwölf Quadratmeter, ohne Fenster, ohne Telefon. Im Raum davor wurden die Obdachlosen ausgespeist, die Essensgerüche und die anderen Gerüche vermischten sich in unserem Raum, der nicht zu lüften war. Als Praxis hatten wir für unsere Patienten nicht mal eine Toilette, die DRK hatte zwar eine, aber die war ja nicht für die Masse gedacht. Es gab kein Wasser, von einer Dusche für die Obdachlosen konnten wir nur träumen. Und das andere Problem war das Fehlen jeglichen Materials. Man hatte ja nur die Stelle als solche genehmigt, sonst nichts! Wir hatten keine Medikamente, keine Binden, kein Pflaster, nichts. Am Anfang hat uns die DRK ausgeholfen, aber dann haben wir bald gesagt, wir müssen uns das von Spendern organisieren – wir hatten nicht mal eine Untersuchungsliege anfangs, nur so ein Ding, mit Riesenrädern, wo ich immer Angst hatte, dass mir mal jemand runterfällt, zum Beispiel bei einem epileptischen Anfall. Und dann wurde auch sehr schnell klar, wir brauchen Kleidung, Unterwäsche, eine Kleiderkammer. Das hat dann alles in diesem kleinen Raum rumgestanden.

Aber was mich wirklich schockiert hat, war der Zustand, in dem die Menschen in die Praxis gekommen sind. Das habe ich nicht erwartet. Nicht so! Dass sie so krank und so verwahrlost sind. Armut war mir nicht fremd, ich komme ja aus Peru, ich habe in meiner Kindheit und später viele arme Leute gesehen, sie haben keine Schuhe, nichts zu essen und zu trinken, aber … aber das, was ich hier gesehen habe, das kannte ich nicht, dieses Ausmaß an Verwahrlosung. Die Münder zum Beispiel, das war ja eine Katastrophe, so was hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, ich kannte zahnlose Leute, Leute mit fehlenden Zähnen, mit schlechten Zähnen, das ja. Aber hier habe ich Münder gesehen, das waren nur noch Zahnruinen, da war nichts mehr zu retten, da war alles faul und entzündet, die hatten Schmerzen – später hatten wir dann auch eine Zahnarztpraxis. Also der Geruch kam noch dazu, dann Alkohol und Zigaretten. Und was mich auch sehr gewundert hat: dass die Leute zum Beispiel sehr, sehr ausgeprägt diese ganzen Hauterkrankungen haben. Ich habe mir gedacht, das muss doch jucken, das muss doch wehtun, das ist doch alles eitrig. Und zum Teil generalisiert, am ganzen Körper! Dazu hatten sie oft auch noch Läuse. Ich sah die kaputten Beine, also diese ganzen extremen Beinödeme, geschwollene Beine, Erfrierungen und so weiter, manche konnten kaum laufen, kamen mit einer Sepsis sogar, und ich fragte mich: Ja um Gottes willen, wie halten die das aus?! Wie lange geht das schon so? Was muss alles im Leben eines Menschen passiert sein, um in diesen Zustand zu kommen, ohne jemals Hilfe gesucht zu haben? Jeder ‚normale‘ Mensch wäre ja schon längst beim Arzt gewesen.

Die ersten Wochen habe ich richtig Albdrücken bekommen, denn ich wusste nicht, wo ich anfangen soll. Es kam da ein Patient in die Sprechstunde, ich habe ihm den Hut abgemacht und sofort gesehen, was da drunter ist. Hut wieder drauf! Da waren Läuse, aber nicht nur; er war voll mit ‚Schleppe‘, einer unter Obdachlosen weit verbreiteten, sich über den ganzen Körper erstreckenden, eitrigen Hautkrankheit. Ich dachte, wenn ich den so behandle, wie er behandelt werden müsste, dann kommt der wie eine Mumie wieder raus. Ich muss ihn von Kopf bis Fuß verbinden. Nur, dazu müsste man erst mal Binden haben. Aber was immer ich mit ihm mache, ich muss ihn auf die Straße zurückschicken, dann schläft er unter der Brücke, und morgen ist es noch schlimmer. Der Mensch gehört ins Krankenhaus. Ich war hilflos. Später kam er dann auch ins Krankenhaus. Die Rettungswagen habe ich am Anfang dauernd gerufen, erst kamen sie eifrig, dann haben sie gesehen, dass keiner die Kosten übernimmt, da waren sie dann immer gerade für die nächsten Stunden voll … Die Kasse hat keine Kosten übernommen und auch nicht das Sozialamt, die Obdachlosen sind ja meistens weder krankenversichert noch gemeldet.

Ich dachte: Das ist ein Skandal, dieses Elend muss raus! Das müssen wir bekannt machen, die Politiker müssen davon erfahren, die Leute müssen das Projekt kennen lernen. Wir haben eine Pressekonferenz gemacht. Dann habe ich mein allererstes Interview gegeben im Fernsehen. Ich war nicht mal aufgeregt, weil ich von dem Problem so eingenommen war, es sollte überall bekannt werden. Nicht nur, um Spenden zu bekommen, sondern auch, damit alle begreifen: So können wir das nicht machen, wir können die Leute auf der Straße nicht einfach vergessen und sterben lassen. Sie brauchen Hilfe … Wir haben eben alles versucht, was wir konnten, und haben jeden Tag von acht bis 15 Uhr unsere Arbeit gemacht, außer am Freitag, da war Weiterbildung – wir haben ja auch noch unser Zertifikat als Sozialberater gemacht. Meine Haltung war ganz klar, hier gibt es keine Frage mehr, wieso, warum. Jetzt wird nicht geklärt: Ist einer selber schuld oder so?, das interessiert mich nicht. Mich interessiert: Was kann ich tun. Also erst mal ganz konkret die ärgsten Probleme angehen, von der Entlausung bis zur Entzugstherapie. Und wenn die Leute rückfällig werden, dann werde ich es ihnen nicht vorwerfen, damit sie sich nicht schämen müssen. Dann sage ich: Gut, Sie haben die Therapie abgebrochen, kein Problem, versuchen wir es nochmal, sodass von den Leuten der Druck genommen wird. Ich habe viel von den Leuten gelernt, auch, dass man es langsam machen muss, denn viele haben sehr schlechte Erfahrungen gemacht, sodass man ihnen gar nicht schnell helfen kann. Ein anderes Problem war, dass ich die ersten zwei Jahre Patienten gar nicht einweisen konnte ins Krankenhaus, erst dann bekam ich eine ‚Ermächtigung‘ von der Kassenärztlichen Vereinigung, das heißt: Ich behandle obdachlose Menschen und kann sie ‚abrechnen‘, einweisen und überweisen – wenigstens die Krankenversicherten und die, die mit dem so genannten U-Schein vom Sozialamt kommen. Vorher konnte es passieren, das ich einen Mann ins Krankenhaus geschickt habe und der Meinung war, er muss aufgenommen werden. Er ist aber abgewiesen worden und wartete die ganze Nacht auf mich – zum Glück hatte die DRK damals Tag und Nacht gearbeitet, sodass er dort warten konnte auf mich bis morgens um acht Uhr. Ich habe dann natürlich gleich alles in Bewegung gesetzt, um den Mann in ein anderes Krankenhaus zu bringen, denn er musste in ein Krankenhaus.

So haben wir dann vier Jahre gearbeitet, unten im Keller vom Ostbahnhof, dann mussten wir raus – wegen Umbaus und Modernisierung des gesamten Bahnhofs. Die Post AG in der Nähe, die hat uns dann Räume mietfrei zur Verfügung gestellt, da drin haben wir drei Jahre weitergearbeitet. Wir hatten mehr Platz, da war’s viel schöner. Nach den drei Jahren sind wir dann wieder umgezogen, auch direkt am Bahnhof, an den Stralauer Platz, in eine ehemalige Behindertenwerkstatt. Wieder wurde alles umgebaut, und als es fertig war, da habe ich gesagt: Gott sei Dank, Frieden! Jetzt haben wir es geschafft. Und weil die Suppenküche durch die DRK auch nicht mehr gewährleistet war, haben wir gesagt, wir müssen das selber machen, sonst kommen die Leute nicht. Das geht nur mit Suppenküche, Kleiderkammer und dann noch einer Zahnarztpraxis und so weiter. So hat man’s umgebaut, und für die Praxis hatten wir dann drei Räume zur Verfügung. Meine Kollegin, die Zahnärztin, hatte zuvor in der Obdachlosenpraxis am Bahnhof Lichtenberg gearbeitet, nun hat sie bei uns dreimal die Woche Sprechstunden gemacht, in Lichtenberg zweimal – das haben sie ja auch eingestellt. Erst mal war alles gut, die Leute haben sich allmählich von der Verwirrung der vielen Umzüge und vor allem vom Verlust ‚ihres Ostbahnhofs‘ erholt. Früher hieß er ja Hauptbahnhof, deshalb sagten sie immer, sie sind aus dem ‚Haupti‘, in den durften sie nun aber nicht mehr rein. Einige waren am Bahnhof Zoo, am Alexanderplatz oder sonst wo, und die mussten nun schwarzfahren, wenn sie zu mir wollten, oder zu Fuß gehen. Einige Leute kamen nicht mehr, einige sind gestorben, von anderen erfuhr ich nichts und machte mir Sorgen. Früher, im Keller im Ostbahnhof, da konnte ich rausgehen und wusste genau, wer wo sitzt. Und wenn er nicht da war, dann wusste der andere, wo er ist. Das war dann später alles durcheinander. Das Vertrauen und die Zuversicht der Leute nicht nur zu bekommen, sondern auch zu erhalten, das ist sehr wichtig und sehr mühsam, weil sie sich von jeder Enttäuschung umwerfen lassen.

Als mir die MUT [Gesellschaft für Gesundheit mbH, Tochter d. Berl. Ärztekammer und freier Träger i. sozialen Bereich] dann im September mitteilte, dass man meine Vollzeitstelle von 40 auf 25 Stunden kürzen müsse – mehr könne man nicht finanzieren, weil die Zahl jener Patienten zurückgegangen sei, deren Behandlung aus öffentlichen Mitteln finanziert wird –, war das natürlich ein Schlag, der alle unsere Bemühungen gefährdet hat. Also nach der Anzahl der Patienten kann man in so einer Praxis nicht arbeiten – davon abgesehen, hatte sich in den Jahren, aufs Ganze gesehen, unsere Statistik gar nicht geändert; so eine Praxis wird sich nie selbst finanzieren! Man kann auch keine ‚Punkte‘ machen, weil: Was soll ich da abrechnen? Gute Worte, Trost, Ratschläge? Das zählt nicht. Ich will eine Stunde mit dem Patienten haben – oder gar nichts! Ich habe dann gesagt: Nicht mit mir. Und nicht mit unseren Obdachlosen! Wir haben die Praxis für sie aufgebaut, ich kann es nicht verantworten, ich kann meine Patienten nicht in 25 Stunden adäquat betreuen, das mache ich nicht mit! Also habe ich gekündigt, aus Protest. Und in einer Presseerklärung habe ich gesagt: ‚Ich rufe die Berliner Bevölkerung und meine Kolleginnen und Kollegen dazu auf, eine von Kürzungszwängen unabhängige medizinische und soziale Hilfe für Obdachlose aufzubauen.‘ Ich war und bin der Meinung, dass die Stadt Berlin eigentlich zwei bis drei feste Ärzte für diesen Bereich finanzieren muss! Aber das verhallte alles in der allgemeinen Betriebsamkeit.

Als dann Schluss war, konnte ich es zuerst gar nicht fassen, dass ich nicht mehr in die Praxis gehen kann. Mein Junge hat mich unterstützt, er sagte: Gut, wenn es aus Prinzip ist, dann musst du durchhalten. Und ich dachte: Gut, ich könnte mein Leben auch anders leben, aber das habe ich nun mal angefangen, und ich werde es nicht hinwerfen. Jetzt habe ich viel Zeit und kann mich um die Stiftung kümmern – sie konnte glücklicherweise schon 2002 gegründet werden mit Hilfe meines Preisgeldes –, mich einsetzen für die Errichtung unseres Gesundheitszentrums für Obdachlose. Unabhängig wollen wir sein, denn ich habe gesehen, ich will nicht meine Kraft und Energie in die Bewältigung bürokratischer Hürden reinstecken, sondern lieber in die Menschen, die sie brauchen, und in die Arbeit dafür. Wir haben also viel unternommen und Räume gesucht und so weiter. Und es ist doch ein schöner Fortschritt, dass ich Sie heute hier empfangen kann, in diesem schönen Haus, das zwar noch ziemlich unfertig ist und leer, aber wir haben schon mehrere Pressekonferenzen gegeben und es bekannt gemacht. Ich bin eigentlich zuversichtlich – auch auf Grund dessen, was schon gespendet wurde –, dass die Berliner solidarisch sind, dass sie helfen werden. Uns ist jede Spende willkommen, auch eine kleine.

Wunderbar an diesem Haus ist, dass wir nun endlich Platz haben, genug, um auch richtig präventiv arbeiten zu können, dass man zum Beispiel Exmittierten helfen kann, damit es erst gar nicht so weit kommt. Wir werden einen Rechtsanwalt haben, einen Sozialarbeiter, einen Psychologen … Wir versuchen jetzt als Stiftung Gelder zu bekommen über die ‚Aktion Menschen‘ [eine Initiative d. „Tagesspiegels“] oder vielleicht auch von der Klassenlotterie, von privaten Sponsoren und so weiter. Staatliche Gelder wird es nicht geben – Umbau, Betriebskosten, Einrichtung, Material und die Stellen muss die Stiftung alles selber tragen. Sobald wir die Gelder für die Stellen haben und eine Grundausstattung hier, fangen wir an. Lieber heute als morgen, so schnell wie möglich, denn ich habe beim Abschied den Leuten gesagt: Ich verspreche Ihnen, wir sehen uns wieder! Also, ich will den Leuten wirklich helfen, aber nicht als Mutter Theresa. Nein, nie im Leben als Mutter Theresa, auf keinen Fall! Ich bin nicht hier, um karitativ tätig zu sein – oder zu missionieren, zu erziehen. Das entmutigt die Leute nur. Mir geht es um Gerechtigkeit, dass ich sie stärke darin, ihr gutes Recht wahrnehmen zu können. Das ist der Unterschied. Ich habe immer gehört: Freundlichkeit wird ausgenutzt, man muss die Leute erziehen. Aber ich erziehe sie nicht, und ich bevormunde sie nicht. Wenn ich einem eine Jacke schenke und er sie gleich um die Ecke verkauft, dann kann ich mich darüber nicht empören, weil es in dem Moment seine Jacke, sein Eigentum war, damit kann er machen, was er will. Oft höre ich, Leute meinen es gut, geben einem Bettler Geld, regen sich dann aber auf, wenn er es für Alkohol ausgibt. Erstens: In dem Moment, wo Sie’s ihm geben, ist es sein Geld. Zweitens: Ein alkoholkranker Mensch – was glauben Sie, was er sich kauft? Wenn er nicht trinkt, ist er noch kränker. Mit ihrem Alkoholproblem sind schon ganz andere Leute nicht fertig geworden, und die leben in besseren Verhältnissen.

Nein, wir wollen dieses Bild nicht geben vom Taugenichts oder vom Opfer. Ich sage, das sind Bürger, genau wie jeder andere. Nur: Sie haben viel mehr Probleme als andere. Und sie haben ein Recht darauf, diese Probleme lösen zu können. Dass es geht, habe ich mit eigenen Augen gesehen. Wir hatten mal eine Frau in der Praxis, die war mein Albtraum, alle sechs Wochen kam sie mit eiternden Füßen, angewachsenen Socken, Madenbefall und so weiter – also, wenn Frauen obdachlos sind, dann ist es besonders krass, dann sind sie wirklich sehr kaputt –, diese Frau hatte sich aufgegeben. Dann verliebte sie sich in einen Obdachlosen, ganz plötzlich, wir haben den beiden ein Zimmer vermitteln können im Heim. Erst wollte sie nicht. Sie ist heute immer noch dort, hat sich gut erholt, und die beiden sind immer noch zusammen. Das hat mich davon überzeugt, dass es keine hoffnungslosen ‚Fälle‘ gibt. Aber es gibt eben sehr viele Menschen, die grade nur so überleben. Damals war die Zahl eine Million Obdachlose für Deutschland, dann war’s knapp eine halbe Million, dann stieg die Zahl wieder kontinuierlich. In Berlin sind es 2004 knapp 7.000. Das sind die offiziellen Zahlen, aber was ist mit den anderen, was ist mit der Dunkelziffer? Dazu kommt, dass ein Drittel an schizophrenen Psychosen leidet, und – wegen verkürzter Liegezeiten auch in der Psychiatrie – nun irgendwo herumirrt. Viele Obdachlose leiden unter Angstzuständen und Depressionen. Und das Erschreckende ist, dass vielen materielle Hilfen gar nicht viel nutzen. Sie sind nicht mehr in der Lage zu wohnen. Sie haben verlernt, mit den Dingen umzugehen, auch mit Geld. Was ich vorhin über die Armut in Peru gesagt habe, war, dass sie ganz anders ist. Denn wenn ich da sage: Du kriegst eine Wohnung, Möbel, Geld, vielleicht sogar eine Arbeit, dann … um Gottes willen, der würde sich so freuen, denn nun würde sich für ihn und die Seinen alles ändern.

Was die Leute hier so kaputtmacht, ist, dass sie – obwohl viele sich in kleinen Gruppen zusammenschließen – unter unglaublicher Einsamkeit leiden. Es liegt daran, dass sie abgestoßen werden und abgeschoben, dass keiner sie mehr will, dass sie den Kontakt verloren haben mit der Familie. Daran, dass ihr Leben im Prinzip wie durchsichtig für die Welt ist. Die Fehler des Obdachlosen sieht jeder, und er wird dafür geziehen. Diese Menschen haben nicht nur ihre vier Wände verloren, auch ihre Intimität. Jeder braucht das, und sie haben es nicht. Der Körper ist ihre äußere Hülle, und die sieht jeder, und jeder kann damit machen, was er will: darauf zeigen, schimpfen, wegbringen lassen oder ignorieren. Das ist eine Erfahrung, die einfach erschütternd ist für die Obdachlosen, und die machen sie jeden Tag. Ich habe mich anfangs gewundert, dass viele trotzdem noch mal einen Scherz machen, lachen und auch oft den anderen solidarisch helfen. Aber sie haben eben kaum einen Halt. Das ist die Lage, und wir möchten sie ändern! Einiges ist ja schon passiert, drei Monate sind wir jetzt in dem Haus hier, und es geht voran, mal sehen, was das Leben bringt, vielleicht können wir im Mai schon öffnen.“

Wir bitten Frau Dr. De la Torre, uns noch ein bisschen über ihr früheres Leben in Peru zu erzählen. Obwohl sie eigentlich zu einer Sitzung muss, erzählt sie bereitwillig: „Aufgewachsen bin ich in einer kleinen Stadt in den Anden Perus. Dort wohnten wir bis zu meinem 13. Lebensjahr, dann zogen wir an die Küste, nach Ica, dort leben meine Eltern heute noch. Wir waren ganz normaler Mittelstand, wir hatten keine Probleme, haben gut gelebt. Meine Eltern waren Händler, Zwischenhändler, meine Mutter war auch mal Bibliothekarin. Ich bin die Zweite, habe drei Geschwister. Bei uns in der Familie ging es sanft und zärtlich zu. Meine Mutter ist superkatholisch – ich bin also bis zu meinem 15. Lebensjahr noch artig in die Kirche gegangen, habe gebeichtet und die Kommunion empfangen. Mein Vater war nicht so sehr … man kann schon sagen, er war links, ist aber mit in die Kirche gegangen. Das ist bei uns Tradition. Ich bin auf die staatliche Schule gegangen und habe dann in Ica angefangen, Medizin zu studieren, ohne Stipendium, die Gebühren waren gering. Aber die Lehrbücher waren teuer. Mein Bruder hat auch studiert, also habe ich angefangen, nachts Kindersachen zu stricken, um die Bücher in Monatsraten bezahlen zu können. Meine Mutter war sauer, das wollte sie nicht, aber so war es besser.

Als wir nach Ica kamen, habe ich zum ersten Mal richtige Arme gesehen. So eine Art Slum. In den Anden gibt es so was nicht, es gibt Arme, ja, aber jeder hat zumindest ein Haus, eine kleine Existenzgrundlage. In Ica war das anders, ich dachte, diese Viertel aus Brettern … wenn es regnet, wird alles weggespült, und die Leute sind obdachlos. Ich sah, wir arm die Leute an der Küste sind, auch wenn man nach der Nahrung geht. Das ist ein Zeichen, wenn einer nichts zum Essen hat, ist er arm – auch wenn er sonst nicht weiter auffällt, weil bei uns die Armen Wert legen auf die Kleidung. Aber wir sind ja zu denen nach Hause gegangen, als Kinder, haben mit ihnen gespielt, auch mit denen, bei denen es hieß: Mit diesen Indianern spielt man nicht. Und wir haben gesehen, die essen einfach nur gemahlenes Getreide oder geröstetes und dazu ein bisschen Zucker, Salz und Wasser. Ich sagte zu meiner Mutter: Um Gottes willen, sollen die verhungern?! Bei uns gab es morgens gebratene Leber, Kartoffeln, Haferflocken mit Äpfeln und Kakao. Wir haben reingehauen, aber das war normal, so isst man heute noch dort. Und wir hatten bei einer Frau Milch gekauft; die Milch von ihrer einzigen Kuh, die haben immer wir gekriegt. Da habe ich mich gefragt: Was trinken denn ihre sechs Kinder? Später, während des Studiums, habe ich Arme gesehen, bei denen wir, betreut durch einen guten Professor, Hausbesuche gemacht haben. Ich dachte: Was für ein Wahnsinn, diese Armut. Sie waren krank, hatten Tuberkulose, hatten viele Kinder, es war schlimm. Und deshalb wollte ich Ärztin werden.

Dann ging ich zum Studium in die DDR, den Rest kennen Sie. Und im ‚westlichen Ausland‘ habe ich dann zum ersten Mal wieder Arme gesehen. Ich wollte mir ein paar Medizinbücher kaufen und war total geschockt, als ich am Bahnhof Zoologischer Garten die ganzen Obdachlosen und Drogenabhängigen sah. So was hatte ich nicht erwartet, in der DDR nie gesehen. Als Nächstes war ich in den Buchhandlungen fast erschlagen von all den Büchern, die ich in der DDR immer kaufen wollte, die es aber nicht gab. Ich habe mir meine Bücher gekauft und bin wieder hierher zurückgefahren.“

Wir verabschieden uns, draußen ist es dunkel, vor dem Haus steht die Straßenbahn Nummer 6 und wartet. Jenny De la Torre sagt an der Haustür: „Die Politiker müssen eine Lösung finden, nicht nur für zu Hause, sondern überhaupt. Wir haben jetzt ein ‚Haus Europa‘, aber was ist passiert? Wo ist die Lösung für dieses Problem? Wir müssen was tun!“

Bis es so weit ist, liebe Leser, hier das Spendenkonto der Jenny De la Torre Stiftung: Berliner Sparkasse, Kontonummer 6600 003 764, BLZ 100 500 00.