Eine erstklassige Gesellschaft

Arm und gleich (I): Die zunehmende soziale Ungleichheit beraubt die Menschen ihrer Würde. Es ist höchste Zeit, wieder über Verpflichtungen der Besitzenden zu reden

Die Gleichheit ist untrennbar verbunden mit der Freiheit und der Brüderlichkeit

Harte Zeiten in Deutschland. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht ein Konzernboss, Arbeitgeberpräsident oder Politiker verkündet: Die Arbeitnehmer sind zu teuer, genießen zu viele Feiertage, zu lange Urlaube und zu kurze Wochenarbeitszeiten. Und weil dies alles so sei, müssten leider Arbeitsplätze abgebaut werden, es sei denn, die Arbeitnehmer verzichteten endlich auf einen ordentlichen Teil des von ihnen erwirtschafteten Wohlstands. Hier das Urlaubsgeld, dort das Weihnachtsgeld, es soll länger gearbeitet werden – natürlich ohne Lohnausgleich. Minijobs, Midijobs millionenfach. Ist Geiz nicht geil?

Die Verzichtsorgie hat längst ihren Niederschlag in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung gefunden. Der Anteil der Bruttolöhne am volkswirtschaftlichen Einkommen ist von 72,9 Prozent im Jahre 2001 auf 68,1 Prozent im 1. Halbjahr 2004 gefallen, die Gewinne dagegen sind von 27,1 auf 31,9 Prozent geklettert. Die Balance sozialer Gerechtigkeit droht verloren zu gehen – wir liegen bei der Verteilung der Einkommen wieder auf dem Niveau von 1970. Aber: Den Arbeitgebern reicht es nicht, denn sie haben eine neue Waffe in der Auseinandersetzung mit ihren Belegschaften entdeckt: Viel wirksamer als die kalte Aussperrung von Belegschaften im Arbeitskampf ist das Lohndiktat durch Androhung von der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland.

Der neue Armuts- und Reichtumsbericht kann angesichts solcher Tendenzen nur zu dem Schluss kommen, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich weiter geöffnet hat. Dass also die Ungleichheit zugenommen hat. Die Ungleichheit hat, möchte man meinen, eine in Zeiten der Ökonomisierung unsichtbar gewordene Schwester: die Gleichheit. Und so wird sich schon bald nach Veröffentlichung des Berichtes eine wilde Horde, angeführt vom scheidenden Industriepräsidenten Michael Rogowski über FDP-Chef Guido Westerwelle und flankiert vom Priester der nationalen Verzichtsökonomie, Hans-Werner Sinn, über die arme Gleichheit herfallen. Die Gleichheit, dieses Relikt aus sozialistischer Vergangenheit, sei nun wirklich keine Lösung, sondern erwiesenermaßen Teil unseres Problems.

Bemerkenswert, welcher Täuschung hier viele Kommentatoren in der Politik und Medien regelmäßig unterliegen. Denn die Gleichheit im politischen Sinne meint keineswegs die Gleichheit der Verteilung von Einkommen und Vermögen. Die Gleichheit meint seit Aufklärung und Französischer Revolution die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger an Würde, an Rechten wie an Pflichten. Die Gleichheit ist, untrennbar verbunden mit der Freiheit und der Brüderlichkeit, eine der Säulen, auf denen die bürgerliche Gesellschaft ruht. Die Freiheit ist nicht ohne die Solidarität zu denken. Wer Wert auf seinen Ruf legt, der bricht nicht ohne Grund eine der drei Säulen von 1789 mutwillig ab, ihm muss bewusstes Handeln unterstellt werden – der will eine andere Gesellschaft.

Als einer der Vorreiter in dieser Debatte hat sich jüngst der Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, hervorgetan. Er tat im September kund, dass „man erstklassigen Leute attraktive Gehälter bieten müsse“. Und keine zwei Monate später strich er 2.500 erstklassigen Leuten die Stellen, um die Eigenkapitalrendite der Bank von derzeit 19 auf 25 Prozent zu heben. Abgesehen davon, dass Normalsterbliche auf ihre Spareinlagen kaum 2 Prozent bekommen, ist diese Haltung aus Ackermanns Sicht schlüssig. Denn er hat zudem Eindruck gewonnen, „dass Gleichheit hierzulande ein absoluter Wert ist“ – und das auch noch im irrigen „Sinne von Gleichmacherei“. Womit sich der Kreis sowohl zu den jüngsten Lohndiktaten wie manchen Meinungsmachern schließt.

Angesichts dieser Ungeniertheit im Umgang mit der Gleichheit muss man leider feststellen: in unseren politischen und ökonomischen Verhältnissen nimmt die Gleichheit an Würde, Rechten und Pflichten Schaden, weil mittlerweile eine zunehmend meritokratisch gesonnene Elite ganz offenkundig der Meinung ist, sie habe zwar attraktive Gehälter verdient, der Rest aber müsse schauen, wo er bleibt.

Wir waren in Deutschland schon einmal weiter. Da kehren Sätze wie diese aus der Erinnerung zurück: „Die Kehrseite des Eigentums des einen ist das Nichteigentum des anderen.“ Oder: „Da jedes Privateigentum […] das nicht dem Gemeingebrauch gewidmet ist, zugleich den Freiheitsraum aller einschränkt, kann sein Erwerb und Gebrauch, um der angemessenen und verhältnismäßigen Freiheit aller willen, selbst nicht unbeschränkt sein.“ Sätze offensichtlich aus der Mottenkiste. Aus der Mottenkiste der Freiburger Thesen der Liberalen, aufgelegt von führenden FDP-Politikern im Jahre 1972.

Wo aber bleibt die Beschränkung der Antreiber der Finanzmärkte in einer globalisierten Wirtschaft? Und ist es nicht bemerkenswert, dass schon 1998, also weit vor den umstrittenen Hartz-Reformen, das obere Fünftel der Gesellschaft 20 Prozent seiner Einkommen sparen konnte, das untere Fünftel sich dagegen verschulden musste, um im Leben über die Runden zu kommen?

„Die Kehrseite des Eigentums des einen ist das Nichteigentum des anderen“ (FDP, 1972)

Und war es nicht damals schon erstaunlich, dass die Ersparnisse des obersten Fünftels mit 156 Milliarden Mark kaum höher lagen, als das Vermögenseinkommen der gleichen Schicht mit 148 Milliarden Mark? Diese Vermögen vermehren sich also nahezu ohne eigenes Zutun. Wer hat aus dieser Vermehrung des privaten Reichtums politische Schlüsse gezogen, weil das Eigentum der einen die Freiheit aller begrenzt?

Keiner. Wir haben stattdessen in diesem Land 25 Jahre das Gegenteil getan: Getreu der Devise, die Gewinne müssen ungehindert sprudeln, damit das Kapital hierzulande Anlage sucht, haben wir es uns geleistet, auf alles Mögliche zu verzichten. Die Vermögensteuer wurde ausgesetzt, die Erbschaftsteuer nicht angehoben. Und während der Konsument an der Ladenkasse noch auf das halbe Pfund Butter Mehrwertsteuer bezahlt, sind Aktiengeschäfte frei von aller Umsatzsteuer. Dafür wurde im Zuge der Arbeitsmarktreformen der Zwang zur Aufnahme jeglicher Arbeit erhöht. Und: die Vermögensteuer exklusiv für Langzeitarbeitslose eingeführt. Sie haben fortan ihre meist kümmerlichen Ersparnisse aufzubrauchen, ehe sie Leistungen von der Arbeitsfürsorge erhalten.

Von Lohndiktaten betroffene Belegschaften, Langzeitarbeitslose und ihre Familien erfahren direkt oder indirekt den Wandel unserer Gesellschaft als eine Kette von Verletzungen der Gleichheit an Würde, Rechten und Pflichten – und damit ihrer Freiheit. Rechte Rattenfänger machen sich auf, den Unmut zu bündeln. Deswegen wird es höchste Zeit, in den Begriffen klar zu werden und wieder über die Gleichheit zu reden, wie über den wachsenden Missbrauch des Eigentums durch die Ackermänner zu Lasten der Freiheit aller. Die bürgerliche Gesellschaft muss – will sie überleben – sich von der zunehmend klassenbewussten Elite der Ackermänner befreien. HILMAR HÖHN