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Archiv-Artikel

Fernsehen von der Emscher

Seit 100 Tagen produziert der Sender TV Emscher-Lippe regionale Nachrichten für das Internet. Die Zuschauerzahlen steigen – vielleicht, weil die Sendungen schnell gewechselt werden können

Fernsehen im Internet macht frei – bei Langeweile wird weitergeklickt

von BERND SCHÄFER

Wollten Sie nicht schon immer einmal eine visuelle Weihnachts- und Neujahrsbotschaft von Ihrem Bürgermeister im TV sehen? Oder Mitschnitte von den Proben des städtischen Theaters noch vor der Premiere? Oder möchten Sie einfach nur eine Stellungnahme hören, warum die Straße vor Ihrer Haustür nach fünf Jahren Bauzeit immer noch nicht fertig gestellt wurde?

Seit 100 Tagen ist dies möglich. Zumindestens dann, wenn man über einen Internetanschluss verfügt und zwischen Emscher und Lippe im nördlichen Ruhrgebiet wohnt. Denn seit dem 17. September 2004 produziert TV Emscher-Lippe Video-Botschaften für diese Region. Jeweils mittwochs und freitags werden aktuelle Filmbeiträge aus den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur und Sport im Internet publiziert.

Rund 20 bis 30 Minuten lang sind die jeweiligen Nachrichtenblöcke. Die Bauarbeiten auf dem Rathausplatz in Herten finden dabei ebenso Berücksichtigung wie die Krisen um Karstadt und Opel. Auch wer noch nicht weiß, was den Emscher-Nachttriathlon ausmacht, wird hier fündig. Man kann erfahren, wie man mit System abnimmt, um in der nächsten Sendung zu lernen, wo sich Schlemmen im Revier besonders lohnt.

Zur Abendbrotzeit kann man der Lyrikerin Ilse Kibgis aus Gelsenkirchen lauschen, die ihre Prosa „Wunschzettel eines Arbeitslosen“ vorträgt. Und in naher Zukunft sind auch spannende Sendungen zur Fußballverbandsliga geplant, sagt Uwe Frank Bauch, Geschäftsführer der Betreibergesellschaft.

Alle diese Beiträge werden „aus einer extrem regionalen Sicht“ produziert, erläutert Bauch das Konzept des Senders. Was so konsequent eingehalten wird, dass es auch peinlich werden kann. Nach einer Produktion über „Brahms in der Grube“, einem Symphoniekonzert im Stollen in 1.000 Meter Tiefe, meldete sich ein verzweifelter Zuschauer mit der Frage, ob er nicht aus dem Beitrag rausgeschnitten werden könne, weil er offiziell woanders gewesen war und sein Alibi nun hinüber sei.

Diese kleine Anekdote verweist auf einen Umstand, über den der Produzent Bauch sehr erfreut ist: Sein Medium erfährt Breitenwirkung. Was nicht immer so war. Ganze vier ZuschauerInnen verfolgten die erste Sendung. Auf über zehntausend soll ihr Zahl über Weihnachten angewachsen sein und erreicht damit Größenordnungen, die das weitere Überleben des Formats sichern könnten.

Bislang wurde das Projekt mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds und aus Töpfen des Landes NRW finanziert. Und zwar als ein Ausbildungsprojekt. Insgesamt 15 Leute arbeiten im Team und erweitern ein Jahr lang ihren Horizont in Sachen Recherche, Redaktion, Internet-Technologien, Film und Sprache, um die Qualität des Vorhabens zu sichern. Ab März nächsten Jahres muss der Sender auf eigenen (Werbe-)Füßen stehen und da zählen nur Einschaltquote und Reichweite. Bis zur Ruhr-Universität Bochum ist man allerdings schon vorgedrungen. Die ProfessorInnen Barbara Thomaß und Peter M. Spangenberg vom Institut für Medienwissenschaft begleiten das Konzept. Im Uni-Seminar „Interaktives Fernsehen im Internet“ sollen die MacherInnen und ZuschauerInnen, das heißt Programmkonzept und Rezeptionsverhalten, inhaltlich analysiert werden, so Dozent Spangenberg. Denn es stellt sich die Frage, wozu man neben den vielfältigen Fernsehprogrammen und den Regionalformaten anderer Sender auch noch Fernsehen aus dem Internet braucht.

Für den Publizisten Bauch ist dies allerdings sehr leicht zu beantworten: Jeder sei relativ unabhängig in der Entscheidung, wann und wo er oder sie sich was anguckt. Darüber hinaus kann auf ältere Sendungen im Archiv zurückgegriffen werden. Wesentliches Argument für viele dürfte jedoch sein, dass man bei Langeweile einfach zum nächsten Beitrag weiterklicken kann. Zum Beispiel dann, wenn die Weihnachts- und Neujahrsansprachen der BürgermeisterInnen doch nicht so toll sein sollten.