Von der Hand in den Mund

Immer mehr Menschen bringen ihren Schmuck in ein Pfandhaus, um ein paar Euro für Essen oder Zigaretten zu bekommen. Und immer weniger Menschen lösen ihre Pfänder später wieder aus

„Ich glaube an das Gute im Menschen“

VON JOHANNES GERNERT

Sie hat sechs Ringe von ihrer Großmutter geerbt, vor etlichen Jahren. Heute bringt sie den letzten. „15 Euro“, sagt die Frau hinter der Glasscheibe. Sie nickt. Sie braucht etwas zu Essen. Und ihren Sohn muss sie auch irgendwie ernähren. Es wird reichen fürs Wochenende, vielleicht ein bisschen länger.

Sie hatte mit mehr gerechnet. „Wenigstens das doppelte hätte ich erwartet“, sagt sie. Die anderen fünf waren einträglicher. Manche haben 40 Euro gebracht, andere sogar 100. „Da waren die Steine wohl zum Teil echt“, vermutet sie. Wenn nächste Woche das Geld vom Sozialamt kommt, muss sie erst einmal rechnen. Aber sie hofft, dass sie alle sechs Ringe wieder abholen kann. Irgendwann. Es gibt nichts mehr, was sie jetzt noch herbringen kann.

Stefan Goebel, weiß-blaues Lacoste-Hemd, dunkle Kordhose, kann ziemlich genau sagen, wer ins Pfandleihhaus geht: „Alle zwischen 18 und 80, jeder – vom Arbeitslosen bis zum Manager.“ So will er es in seinem Leihhaus im Wedding beobachtet haben. Nur die ganz Armen kämen nicht, „die, die gar nichts haben.“ Genauso wenig wie die „Superreichen“. „Alle anderen kommen. Und jedes Mal ist die Frage: Warum?“

Die Frau mit den langen blonden Haaren, die ihre Turnschuhe immer wieder nervös aneinander schlägt, antwortet mit ihrer Geschichte. Ihr Sohn war ein Pflegefall, weil er nach einem Luftröhrenschnitt einen offenen Hals hatte. Sie musste sich rund um die Uhr um ihn kümmern, bis er sich den Schleim schließlich selbst absaugen konnte. Sie hat also nicht gearbeitet. Und als sie wieder hätte arbeiten können, hat sie nichts gefunden, außer gelegentlich mal eine ABM-Stelle. Sie wird bald vierzig, das macht die Suche nicht leichter. Bei der Bank hat sie Schulden gemacht, so lange es ging. Als es nicht mehr ging, hat sie sich an die Ringe ihrer Großmutter erinnert.

Im Pfandleihhaus prüft niemand Einträge bei der Schufa, der Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditvergabe. Ob jemand seine Kredite zurückgezahlt hat oder nicht, interessiert hier keinen. Als Pfand zählt das echte Edelmetall. Das Gewicht des Goldrings. Die neue Stereoanlage – mit Quittung bitte. Abbezahlt sollte sie schon sein. Sonst gibt es dafür keinen Pfandschein. Und auch kein Geld.

Wenn sie den Ring wieder haben will, muss sie den Pfandschein vorlegen und sie wird 17 Euro und 65 Cent brauchen. Nach dem ersten Monat. Ein Prozent Zinsen und 2,50 Euro Gebühr kommen zu dem Darlehen von 15 Euro. Für jeden weiteren Monat noch einmal dasselbe. Vier Monate lang liegt der Ring im Pfandhaussafe. Sollte sie bis dahin nicht genügend Geld übrig haben, kann sie verlängern.

Oder der Schmuck wird versteigert. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder Ring spielt das Geld ein, das Stefan Goebel ausgeben musste, das Darlehen, die Zinsen, die Gebühr, die Kosten für den Auktionator – in diesem Fall geht er an den Meistbietenden.

Es kann auch sein, dass zu wenig geboten wird, sodass der Pfandleiher den Ring lieber selbst ersteigert, bevor er Verlust macht. Dann landet er in einer der Vitrinen oder im Schaufenster und wird verkauft. Den Erlös aus Verkauf oder Versteigerung darf Goebel nicht behalten. Ihm stehen nur die eigenen Ausgaben zu. Den Rest könnte sich die Eigentümerin des Rings in den folgenden zwei Jahren holen. Anschließend geht der Betrag an den Staat.

Wie viel Geld er in seinem Leihhaus umsetzt, sagt Stefan Goebel nicht. Es gibt Leute, die auf dumme Gedanken kommen, wenn sie solche Zahlen lesen, befürchtet er. Zweimal ist sein Laden schon überfallen worden. Es ist alles versichert. Trotzdem sind dann auch Erbstücke von ideellem Wert weg. Manche Kunden sind nicht wiedergekommen, andere haben ihn verklagt. Vermutlich wirft Goebels Weddinger Leihhaus genug ab. So wie viele der rund 200 Läden in Deutschland, deren Umsatz im vergangenen Jahr um elf Prozent gestiegen ist.

In Berlin gibt es 26 Leihhäuser. Ihre Standorte widersprechen Goebels These von der schichtübergreifenden Klientel ein bisschen. Zunächst einmal wäre da der Ost-West-Gegensatz. Im Osten wird kaum verpfändet. Auch nicht in Ost-Berlin, wenn man von dem einen Geschäft in der Friedrichstraße einmal absieht. Es fehlt das Interesse am Kurzzeitkredit. Und es fehlen die Pfänder. „Die DDR hat nicht den Schmuckhandel gehabt wie die Bundesrepublik“, sagt Goebel.

Neukölln, Kreuzberg, Wedding, auch Tiergarten, sind die Berliner Leihhaus-Hochburgen. „Alles Bezirke mit hohem Ausländeranteil“, stellt der Pfandleiher fest. Um nämlich ein Stück Schmuck zu beleihen, braucht niemand einen deutschen Pass. Bei einer Kontoeröffnung sieht das schon wieder anders aus.

Es werden an diesem Nachmittag kongolesische Pässe vorgelegt, russische und türkische, hauptsächlich aber deutsche Personalausweise. Ein Schwarzer kommt, zieht sich einen dicken Goldring vom Finger und kramt ein paar Pfandbelege hervor, die er verlängern lassen möchte. Er zählt seine Euro-Scheine. Es reicht nicht. Er werde in den nächsten Tagen wiederkommen, sagt er. Ob es denn auch Manschettenknöpfe gebe hier, fragt er den „Maestro“. Goebel zeigt auf den Glaskasten, der in den Schalter eingelassen ist. Der Mann sieht sich einige an. Dann geht er.

Ein junger Türke packt eine schwere Goldkette aus. „Mit der waren sie doch gestern schon mal hier“, sagt Goebel. „2.500 Euro gibt’s dafür, wie ich gesagt habe.“ Sein Gegenüber will gestern nicht hier gewesen sein. Er murmelt etwas von einem Bruder, einer anderen, kleinere Kette, telefoniert kurz und verschwindet wieder. Goebel schaut aus dem Fenster. „Da steht sogar derselbe Wagen in der zweiten Reihe.“ Er schüttelt den Kopf. Manchmal möchte man nicht wissen, wo die Sachen herkommen, wo das Geld hingeht.

Manchmal muss man es sich anhören. Der Maurer hat einige Monate keinen Lohn bekommen. Mit dem Überbrückungsgeld vom Sozialamt konnte er gerade die drei fälligen Monatsmieten bezahlen. Er hat hier 25 Euro geholt – für Essen und Zigaretten. Jetzt bittet er den „Herrn Leihhaus“ kurz an die Scheibe heran. Wie das mit der Verlängerung sei, ob man da nicht drüber reden könne. Man kann mit Goebel reden.

Mit Hartmut Muche etwa hätte Goebel eigentlich keine Geschäfte mehr zu machen brauchen. Muche hat vor gut einem Jahr einen Ring vorbeigebracht und eine Kette. Er hat beides nicht wieder abgeholt. 70 Euro Miese, rechnet ihm der Leihhaus-Betreiber vor, nachdem er es am Computer überprüft hat. Er konnte die Stücke weder kostendeckend versteigern noch verkaufen. Wenn Muche den Schmuck seiner Freundin auch nicht auslöst, „dann trennen sich unsere Wege“.

Es gehen nicht nur mehr Leute in die Pfandleihhäuser, 1,1 Millionen Menschen waren es im vergangenen Jahr, es kommen auch immer mehr kein zweites Mal wieder. Vor fünf Jahren haben acht Prozent der Kunden ihre Ringe, Ketten, Stereoanlagen oder Handys für immer im Leihhaus gelassen. Heute sind es schon 12 Prozent. „Tendenz steigend“, beobachtet Goebel.

„Wie ist das mit der Verlängerung? Kann man drüber reden?“

Den Ring hätte er gern behalten, sagt Hartmut Muche. Ein Mitbringsel sei das gewesen aus Sri-Lanka. „Was da für Herzschmerzgeschichten dranhängen.“ Aber als arbeitsloser Kraftfahrer hatte er damals statt Geld nur Schufa-Einträge. Mittlerweile hat er nicht einmal mehr ein Bankkonto.

Goebel fragt: „Wie viel brauchen sie denn?“ Muche winkt ab. „So viel haben sie nicht.“ Aber er ist doch ganz froh, als alles zusammen 290 Euro auf die Wage bringt. „Donnerwetter.“ Er lässt sich zwei Pfandscheine geben, je hundert Euro. So kann er das Geld schrittweise zurückzahlen. „Ich will’s nicht schwieriger machen, als es ist.“ Die Kunden verteilen den Wert oft auf mehrere Scheine und nehmen nicht selten weniger, als sie haben könnten. Sie haben Erfahrung mit Schulden. Sie wissen, dass man am besten so wenig wie möglich macht.

Muche spricht von einem „Teufelskreis ohne Ende“, von Löchern, die man reißt, von immer neuen Löchern. Wenn man ihm so zuhört, könnte man ins Zweifeln kommen, ob seine Freundin den Schmuck jemals wieder sieht. Aber Stefan Goebel sagt: „Ich glaube an das Gute im Menschen.“ Und Hartmut Muche verspricht nicht nur, dass er diesmal bezahlt, er will sogar Schmuck im Weddinger Leihhaus kaufen, wenn er denn mal kann. Es ist irgendwie rührend, wie er sich dann tatsächlich vor die Vitrine stellt und die Ringe begutachtet, als könne er damit seine Kreditwürdigkeit beweisen.

Es gibt fröhliche Momente in der kleinen Schalterhalle. Wenn das Geld gereicht hat. Langsam schiebt die Frau in der langen Weste einen Ring nach dem anderen über die Finger. Dann steckt sie sich die Ohrringe an. Zuletzt die Kette. Sie sieht zufrieden aus. Auch der kräftige, braungebrannte Mann verlässt den Laden breitbeinig, beschwingt. An seinem Hals glänzt wieder Gold.

Drei Berufe müsste man als Pfandleiher eigentlich lernen, sagt Stefan Goebel: Kaufmann, Uhrmacher und Goldschmied. Ein paar Semester Psychologiestudium dürften auch nicht schaden. Man muss den Leuten die Scham nehmen. Auch wenn sie kommen, weil sie kein Geld fürs Essen haben. Man muss ihnen die Normalität des Pfandleihgewerbes überzeugend auseinander setzen. Man muss Dinge sagen wie: „Am Bankautomaten schämt sich doch auch keiner.“ Auch ein Scherz zwischendurch schadet nicht: „Ich bin das einnehmende Wesen.“

Manche Pfandhausbesucher lachen kurz, weil sie für den Augenblick Geld haben, und erwidern etwas. Aber wenn sich am Ende die Tür nach draußen summend öffnet, dann sieht es dort grau aus. Es regnet