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Archiv-Artikel

Zwischen Tradition und Moderne

NEUE MUSIK Vor 1989 waren Versuche, in Ostberlin ein Ensemble für neue Musik zu gründen, zaghaft. Inzwischen ist Berlin vom Nebenschauplatz zur Schaltstelle einer Avantgarde mit diversesten Ansätzen geworden

Die Finanzierung ist wacklig. Man muss Konzert-Dienstleister sein und eigene Projekte entwickeln

VON BJÖRN GOTTSTEIN

„Nur per Zufall“, lacht Thomas Bruns. „Anders würde es nicht funktionieren!“ Bruns ist verantwortlich für Produktion und Dramaturgie beim Kammerensemble Neue Musik Berlin (KNM). Er arbeitet Programme aus, verhandelt mit Festivalleitern und lädt Gastmusiker ein, wenn mal ein außergewöhnliches Instrument gefragt ist. 1987, noch als Student der Gitarre an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Ostberlin, hat er das KNM gemeinsam mit einer befreundeten Komponistin gegründet. Per Zufall. Oder weil man sich mit aktueller Musik zu befassen und vor allem die Partituren seiner Kommilitonen aufzuführen wünschte. „Hinzu kam der Kitzel, etwas zu tun, was von der offiziellen Linie der Hochschule abwich.“ Westnoten mussten geschmuggelt werden, selbst Partituren von Arnold Schönberg waren damals nicht ohne Weiteres zu haben. Sein Wiener Verlag habe gleich nachgefragt, woher man die Noten habe. „Dass wir die gekauft haben, konnte man sich offenbar nicht vorstellen. Ossis haben ihr Geld ja sonst nur für Westschokolade und Melitta-Kaffee ausgegeben.“

Ganz so zufällig, wie Bruns die KNM-Gründung retrospektiv darstellt, ist sie vielleicht gar nicht gewesen. Im Berliner Osten gab es eigentlich keine Musiker, die neue Musik spielten. Werke namhafter DDR-Komponisten wurden in Leipzig aufgeführt, wo die Gruppe Neue Musik Hanns Eisler ein Gegenwartsrepertoire pflegte. Zaghafte Versuche, ein Ensemble für neue Musik in Berlin ins Leben zu rufen, waren 1986 gescheitert, als sich der Ensembleleiter in den Westen absetzte. Auch wenn das KNM damals nicht das offizielle Neue-Musik-Ensemble Berlins hatte werden wollen, wurde es bald zur wichtigen Anlaufstelle für junge Komponisten. Man habe in den ersten Jahren nach der Wende von einem Hunger nach junger Musik aus der DDR profitiert, sagt Bruns. Komponisten wie Helmuth Oehring seien damals auf allen großen Festivals gespielt worden.

Der revolutionäre Geist der Vorwendejahre hat im Musikleben seine Spuren hinterlassen. Wie das KNM entstand auch das Ensemble United Berlin unmittelbar vor dem Mauerfall. Ostberliner Orchestermusiker, allen voran Andreas Bräutigam, Geiger an der Komischen Oper, suchten das Desiderat eines Neue-Musik-Ensembles auszuräumen. Inzwischen hat sich die Berliner Ensemblelandschaft gewandelt. Neben KNM und United Berlin sind heute in Berlin aktiv: das Ensemble Mosaik, das Modern Art Sextett, work in progress, das Kairos Quartett und das Sonar Quartett. Hinzu kommen zahlreiche Studentenensembles und lose, projektbezogene Gruppen.

Anders als früher gilt Berlin, einst Nebenstelle der musikalischen Avantgarde, heute als ihre europäische Zentrale. An guten Musikern und interessanten Komponisten mangelt es nicht.

Die Finanzierung der Ensembles steht allerdings auf wackligen Füßen. Das KNM genießt zwar feste Ensembleförderung, die zumindest ein Minimum an Kosten abdeckt, die meisten anderen Ensembles hingegen erwirtschaften ihre Gagen von Konzert zu Konzert. Alle festen Ensembles aber leben mit der Doppelrolle, Dienstleister für Konzertveranstalter zu sein, die ein bestimmtes Programm diktieren, und eigene Projekte zu entwickeln, um selbst an der Entscheidung, was, wo und wie aufgeführt wird, mitzuwirken.

Die Profile der Ensembles haben sich im Laufe der Jahre geschärft. United Berlin arbeitet seit Kurzem mit einem künstlerischen Leiter, dem Komponisten Oliver Schneller. Er möchte die neue Musik für Einflüsse aus dem Nahen und dem Mittleren Osten öffnen und sucht Schnittstellen zur avancierten Popmusik und zum Jazz. Das KNM wiederum hat sich um ungewöhnliche Darbietungsformen verdient gemacht. Zu den außergewöhnlichen Projekten gehört die jährliche „HouseMusik“ – ein Nachmittag mit Kleinstdarbietungen in Privatwohnungen, Ladengeschäften und im Verwaltungstrakt der Siemensstadt.

Auch das ensemble mosaik, 1997 von Studenten der Universität der Künste gegründet, hat sich auf eine klare ästhetische Ausrichtung festgelegt. „Wir haben immer gerne experimentiert“, erklärt die Flötistin Bettina Junge, „und arbeiten bis heute mit jungen Komponisten zusammen, die etwas ausprobieren möchten.“ „Open Source“ heißt das wichtigste Konzertprojekt, bei dem offen konzipierte und in enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble entstandene Werke vorgestellt werden. Zu den Komponisten, die seit Jahren mit Mosaik zusammenarbeiten und genau diese ästhetische Offenheit suchen, gehören Orm Finnendahl und Enno Poppe, der dem ensemble mosaik seit 1998 auch als Dirigent angehört.

Entscheidend für das Selbstverständnis einer Gruppe sei letztlich der Sound, öffnet Ernst Surberg, Pianist bei mosaik, nochmals eine andere Perspektive auf die Berliner Ensemblelandschaft: „Orchestermusiker haben eine sehr traditionelle Vorstellung davon, wie ihr Instrument zu klingen hat. Und die stört, wenn man mal einen anderen Klang erzeugen soll.“ Tatsächlich unterscheiden sich die großen Berliner Ensembles hinsichtlich ihrer Spielkultur. United pflegt mit seinem dem Orchester verpflichteten Stamm ein mehr gediegenes Klangideal. Den Mitgliedern von mosaik liegt hingegen viel an der Öffnung des Klangs, daran, die „Physik des Instruments“ (Surberg) zu nutzen.

Zwischen Tradition und Öffnung, zwischen Konzertsaal und Gewerbegebiet bieten die Berliner Neue-Musik-Ensembles die Palette des Denkbaren, und zwar auf hohem interpretatorischen Niveau. Und reiner Zufall ist das gewiss nicht.