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Archiv-Artikel

Das Schießen genießen

Forellen nachstellen und mit Frauen ins Feld gehen: Der Wolf, der Partisan, der Jagdtrieb, die Lust zu morden und das sexuelle Begehren gehören zusammen. Das zeigen auch die Bücher des montenegrinischen Widerstandsführer Milovan Djilas und des Schweizer Psychoanalytikers Paul Parin

„Du hast nicht nur eine Riesenforelle erwischt, sondern auch einen Gayboy“

VON HELMUT HÖGE

Nachdem die Bundesregierung prüfen ließ, ob das Internet-Suchwort „Wolf“ nicht verboten gehöre – weil es allzu oft auf Webpages von Neonazis auftaucht, wich die von Deutsch-Ökos und US-Neocons entfachte Wolfsbegeisterung des Feuilletons einer gewissen Bedenklichkeit: Erst berichtete der Spiegel über die wachsenden Wolfsschäden bei den Schäfern Brandenburgs, denen die Raubtiere wie im Blutrausch halbe Herden zerfleischt hatten. Dann legte die Bild-Zeitung mit einem Bericht über die derzeit in der Lausitz lebenden 128 Wölfe nach: „Vier Wölfe griffen einen Jäger an. Hier erzählt er, wie er sich rettete.“

Dem folgte ein Bericht über einen sorbischen Bauern, der sich vor zwei zähnefletschenden Wölfen gerade noch auf seinen Traktor retten konnte. Ähnlich vermeldete dann auch die New York Times am 16.März in einem langen, lauten Artikel „Wolves Come Back“, dass ein Biologe der Wildlife Conservation Society in Wisconsin festgestellt hatte, „die Wölfe haben es in den vergangenen Jahren geschafft, sich sogar in Landstrichen auszubreiten und zu vermehren, die ständig von Touristen, Wintersportlern und Jägern frequentiert werden: „This is the classic case of the quiet recovery of wolves without a big fanfare.“

In der von immer mehr Touristen besuchten Mongolei beklagten die Nationalparkwächter zur gleichen Zeit, dass zwar die steigende Zahl von Wölfen auch mehr Wolfsjäger auf den Plan gerufen habe, diese jedoch, weil ihnen das Auflauern des klugen Wolfes zu mühsam ist, stattdessen – um des schnelleren Erfolges willen – meist Hirsche, Gazellen und andere geschützte Tiere abschießen. Die Nationalparkleute selbst versuchen dagegen, die Wölfe zu fangen und mit Sendern auszustatten, um mehr über ihre Streifzüge und Wanderungen zu erfahren.

„Wanderland“ – so hieß dann am 7. Juli auch ein langer Bericht in der Frankfurter Rundschau über die BRD, „die sich in Teilen zu einem Land, in dem sich bald Wolf und Luchs ‚Gute Nacht‘ sagen, entwickelt: Die Bevölkerung schrumpft und altert. Die Menschen ziehen dorthin, wo Arbeit ist.“ Das ist die alte „Schwache Dörfer – starke Wölfe“-Theorie (shrinking cities), nun auf den Luchs erweitert – und demnächst wohl auch noch auf den Tiger, der uns neuerdings ebenfalls als sausozial und geradezu vorbildlich angepriesen wird, wie Cord Riechelmann bemerkte.

Die Tschetschenen haben schon seit langem den Wolf im Wappen. Im Zusammenhang des über zweihundertjährigen Krieges der Russen gegen die Tschetschenen finden sich bereits von Puschkin, Lermontow und Tolstoi viele Bemerkungen über das wölfisch-partisanisch kämpfende Bergvolk: Damals jedoch noch durchaus hoch achtungsvoll, selbstkritisch gar, so schrieb zum Beispiel Tolstoi: „Die Tschetschenen waren so fassungslos gegenüber der bestialischen Grausamkeit der russischen Soldaten, dass bei ihnen der Wunsch, sie gleich Wölfen auszurotten, ebenso natürlich war wie der menschliche Selbsterhaltungstrieb.“ Wölfe auf beiden Seiten!

Die seit 1992 existierende tschetschenische Nationalhymne beginnt mit dem Satz „Wir sind geboren in der Nacht, als die Wölfin Junge warf“. In einer Ausstellung der Deutsch-Kaukasischen Gesellschaft fand sich kürzlich zum tschetschenischen Wappentier auch die entsprechende Legende: „Vor langer, langer Zeit erhob sich ein Sturm, der alles hinwegfegte. Nur ein Wolf stemmte sich ihm entgegen. Der Sturm wurde zornig, riss ihm das Fell in Fetzen vom Leibe und biss ihn blutig, doch der Wolf rührte sich nicht von der Stelle, weil er keine andere Heimat hatte als diesen Ort und nicht von ihr lassen wollte, auch wenn ihn hier größtes Unglück träfe“.

Der Wolf als unbesiegbarer Partisan, das war dann auch das Thema eines „Symposions“ in einem gleichnamigen Zehlendorfer Restaurant, wo es konkret um Leben und Werk von Milovan Djilas ging: Der montenegrinische Widerstandsführer brachte es nach dem Krieg bis zu Titos Stellvertreter. Wegen seiner Kritik an der kommunistischen Machtpolitik verlor er dann jedoch alle Parteiämter und kam 1954 für 18 Monate ins Gefängnis. 1956 musste er wegen seiner Verteidigung des Ungarn-Aufstands noch einmal für drei Jahre ins Gefängnis. Dort schrieb er das Buch „Die neue Klasse“, das ihm weitere sieben Jahre Gefängnis einbrachte. 1961 wurde er vorzeitig entlassen, bekam jedoch bald wegen seines Buchs „Gespräche mit Stalin“ erneut fünf Jahre aufgebrummt. In dieser Zeit schrieb er einige Erzählungen über seine Partisanentätigkeit, die dann unter dem Titel „Der Wolf in der Falle“ veröffentlicht wurden.

Nun taucht er, der 1995 starb, im neuesten Erzählband des linken Psychoanalytikers Paul Parin wieder auf – „Die Leidenschaft des Jägers“ betitelt: zum einen, weil der gebürtige Slowene Parin einst als Arzt bei den jugoslawischen Partisanen tätig war, und zum anderen, weil Djilas ebenso wie der Autor ein passionierter Jäger war: Wolf, Jäger, Partisan und sexuelle Leidenschaft – das gehört für beide zusammen. Damit entwickeln sie nebenbei noch ein anderes, wahreres, Wolfsbild als das des Feuilletons, in dem der Wolf verkitscht, vegetarisch, höchstens als „Gesundheitspolizei“ aufscheint.

Paul Parin hatte bereits als 13-Jähriger bei seinem ersten tödlichen Schuss auf ein Haselhuhn einen Orgasmus: „Seither gehören für mich Jagd und Sex zusammen!“ Dieser Doppelschuss, wenn man so sagen darf, machte ihn zum „Mann: glücklich und gierig“. Vor dem offiziellen Erwachsenenstatus steht aber noch eine sadistische „englische Erziehung“: Bei einer Jagd mit Hunden beging er als junger Treiber so viele Fehler, dass sein gutsherrschaftlicher Vater ihn von seinem Förster auspeitschen lässt – „auf den blanken Hintern“ inmitten der Treiberschar. Die darf ihn sich gleich anschließend noch einmal im Keller des Schlosses vornehmen, dabei ziehen sie ihn ganz aus. Sein „Papa stand daneben und genoss das Schauspiel“. Anschließend legte sich einer der Burschen nackt neben ihn, „nahm meinen Pimmel in die Hand, steckte ihn in den Mund und fing an zu saugen und mit der Zunge zu streicheln“.

Das war aber noch nicht die eigentliche „Initiation“. Die kam erst mit 17 – als er seinen ersten Bock schießen durfte. Ein Onkel hatte ihn dazu in seine Jagdhütte eingeladen. Als Paul Parin oben ankam, bedrängte dieser gerade mit heruntergelassener Hose seine Haushälterin am Kachelofen. „Komm in zehn Minuten wieder“, rief ihm der Onkel zu, „dann sind wir mit Vögeln fertig. Dann sind auch die Mädels da, die ich gemietet hab.“ Abends erzählt der Onkel Jagdgeschichten, danach geht der Bub mit einem der drei jungen Prostituierten auf sein Zimmer. Erst lässt sie sich von ihm mehrmals mit der Hand befriedigen, dann holt sie ihm einen runter und er geht in den Wald jagen. Beim Frühstück muss er alle Einzelheiten erzählen. Auch das gehörte zum „Ritual“. Seitdem erfasste ihn „das Jagdfieber immer wieder mit der gleichen Macht wie sexuelles Begehren“. Ein „aufgeklärter Mensch jagt nicht“ – das ist „gleichermaßen das Gesetz abendländischer Ethik. Ich muss mich zu den Ausnahmen zählen.“ Aber Paul Parin hat selbst und von vielen anderen erfahren: „Wenn mein Vater nicht seine Jagd gehabt hätte, wären wir Kinder in der strengen und sterilen Familienatmosphäre erstickt.“ Deswegen beschreibt er jetzt eher genuss- als reuevoll zum Beispiel seine Jagd auf eine Gazelle in der Sahara und das Forellenfischen in Alaska. Darauf folgt der „Lebensroman“ einer verwandten Seele: des slowenischen Juden Frank Coen, der als Kind von der SS-Gebirgsjägerdivision „Prinz Eugen“ gejagt wurde und dann bei den Tito-Partisanen überlebte, wobei er zum Jäger wurde.

Anschließend geht es noch einmal um sein sexualsadistisches Initiationritual: Ebenfalls um ihm gute englische Manieren beizubringen, züchtigt der Internatsleiter, Pete, das Waisenkind Frank mit der Peitsche und legt sich dann selbst nackend neben den Jungen, um mit ihm Analverkehr zu haben, ihm gleichzeitig einen runterzuholen. Der Junge sagt am Ende: „Pete, ich bitte noch um eine Peitsche.“ Nach kurzer Zeit ist er bereits „auf die Dressur süchtig geworden“.

Paul Parin merkt dazu an: „Sucht heißt, dass der narzisstische Genuss am Morden mit der Jagd weltweit einen Freibrief hat.“ Am Beispiel von Milovan Djilas, einem leidenschaftlichen Angler und ebenso leidenschaftlichen Kommunist, gibt er jedoch zu bedenken: „Später, als Dichter, wusste Djilas: Keine Ausübung der Macht über das Volk, über die Schwachen bleibt ohne verbrecherische Taten. Wäre es nicht besser gewesen, der eigenen Leidenschaft Raum zu geben und den flinken Forellen nachzustellen …?“

Parins eigene „Jagdleidenschaft“ erlosch bald nach dem 84. Geburtstag seiner Frau Goldy, am 30. Mai 1995: „An diesem Tag habe ich im Fluss Soca in Slowenien die größte Forelle meiner Laufbahn gefangen.“ Anschließend erzählte er seiner Frau, dass er dort einen jungen verwilderten Mann fesselte, der ihn beklauen wollte – dann hätte er ihn ausgepeitscht bis zum „Flash“, woraufhin sie beide zum Orgasmus gekommen seien. Während Paul Parin diese Geschichte schließlich als eine „Fantasie“ darstellt, ist die Psychoanalytikerin Goldy sich da nicht so sicher: „Kann sein, dass du nicht nur die Riesenforelle erwischt hast, sondern auch einen Gayboy aus Kärnten.“ Sie einigen sich darauf: „Es könnte so sein oder auch nicht … Gehen wir schlafen.“

„Es wäre besser gewesen, der eigenen Leidenschaft Raum zu geben“

In einer Art Nachwort rühmt Christa Wolf des Autors „Lebenskunst und Schreibkunst“; diese im richtigen Augenblick kennen gelernt zu haben war für sie eine „glückliche Fügung“. Mich hat sie nun eher verwirrt. Während meiner Arbeit als landwirtschaftlicher Betriebshelfer hatte ich oft mit Bauern zu tun, die Jäger bzw. Treiber waren. Und oftmals kam mir das Dorfleben völlig oversexed vor: voller roher Triebe, die mich erstaunten, aber denen gegenüber ich meine eigenen auch als verzärtelt und allzu harmlos empfand. So erfuhr ich etwa von einer Melkerin, mit der ich in einer LPG bei Babelsberg arbeitete, dass sie beim letzten Fest mit zwei Kollegen angetrunken aufs Feld gegangen sei, um mit ihnen zu vögeln. Aber statt über sie, die sich bereits ausgezogen und hingelegt hatte, dankbar herzufallen, hätten die beiden Nichtsnutze sie bloß im Stehen angepinkelt. Solche Schufte gebe es!

Ich war überrascht, mit welcher Freimütigkeit sie mir das erzählte. Wollte sie mich schockieren oder stellvertretend für alle Männer anklagen? Nie hätte ich das sündige Dorfleben aber mit der Jagd in Zusammenhang gebracht, obzwar die Männer andauernd und bis ins hohe Alter den Frauen nachjagten, wie sie das nannten, und ich selbst dabei auch nicht gerade erfolglos war. Gleichwohl machte mir weder die Jagd auf Wild noch das Angeln Spaß: Das eine, die Jagd auf Ratten und Hasen, bereitete mir hernach schlechte Träume und ein schlechtes Gewissen, das andere, die Angelei, langweilte bzw. ekelte mich – im Anbissfall.

Paul Parin wurde 1916 auf einem slowenischen Landschloss geboren. Und in seiner Jugend lagen die Worte für Fleisch (viande), Vergewaltigung (viol) und Gewalt (violence) vielleicht noch enger zusammen, als es bis heute im Französischen semantisch der Fall ist. Diesen Einbruch der Natur in die Kultur haben wir inzwischen mit der urbanen Trennung des Tieretötens vom Fleischessen vielfach für uns abgeblockt, wobei das Morden – Jagen oder Schlachten – ebenfalls hoch kultiviert/industrialisiert wurde. Von hier aus stellt sich mir die Lektüre der Jagderzählungen von Paul Parin wie ein gelungener – weil verstörender – Einbruch in meinen psychischen Haushalt dar. Bisher hatte mich die ganze Jägerei – pro und contra – eher kalt gelassen.

Klaus Theweleit hat gerade in einigen Aufsätzen noch einmal den Aspekt des Lustmordens bei den deutschen Vernichtungsfeldzügen in Osteuropa herausgearbeitet, wobei er von Pasolinis Film „Salo oder die 120 Tage von Sodom“ ausging . Demnach sei die Jagd eine „Transgression des Lustmordens ins gesellschaftlich Erlaubte“ – Gleiches gilt wohl auch für das neoliberale Wieder-wölfisch-Werden.

Unbeeindruckt davon riefen am 7. August die Wolfs- und Tierschützer erneut zu ihrer nunmehr 35. „bundesweiten Antijagddemo“ auf, diesmal vor dem Verbraucherschutzministerium in Berlin: „Alle 6 Sekunden stirbt ein Tier durch Jägerhand, und dies ohne vernünftigen Grund“, hieß es dazu in einem Flugblatt. Alle 7 Tage läuft aber auch ein Krimi im ZDF – der am 9. Oktober, mit Bella Block als verbeamtete Jägerin, hieß: „Die Freiheit der Wölfe“ – auch dies ohne Sinn und Verstand.