Der Hobbydichter

LYRIK Wie man Gedichte verfertigt: Stephen Frys lustige Verslehre

Eine Übung: Schreiben Sie in fünfhebigen Jamben, was Sie jetzt gerne essen würden!

VON MICHAEL RUTSCHKY

Die Untersuchung von Kinderzeichnungen lehrt, dass die Kunst ontogenetisch mit einer Darstellung des Seienden im Ganzen, der Totalität beginnt: dem Hudelhutsch, den das eifrige Kind mit seinem Malgerät auf dem Papier entstehen lässt, ein Knäuel kreisender Linien ohne irgendeine Gestalt. Dazu muss man sich Mutter denken, in deren Augen der kindliche Hudelhutsch jenen Glanz entstehen lässt, welchen der Künstler von nun an sein Leben lang als höchstes Ziel erstrebt.

Wer sich deutlich an den jungen Dichter erinnert, der er einst war, der kann die quälende Notwendigkeit, alles zu sagen – und zwar jetzt –, gut nachfühlen. Mit Gedichten fällt das leichter als mit einem Drama oder gar einem Roman – und geht viel schneller. Was dabei herauskommt, ähnelt dem grafischen Hudelhutsch des Kindes noch verblüffend (und in anderen Disziplinen – Philosophie, Politik – finden sich ebenfalls seine Äquivalente, Welterklärungen, Welterlösungsprogramme).

Weil der junge Dichter ahnt, dass seine Ergüsse keineswegs den Beifall von Frau Welt erringen werden, beginnt er an ihnen zu arbeiten (ohne auf das endgültige Ziel, den Ruhm, zu verzichten – im Gegenteil). Der Hudelhutsch beginnt sich auszufädeln, die Fäden nehmen Einzelgestalt an, die hier und da noch deutlicher ausgeformt zu werden verlangt. An dieser Stelle kaufte sich der junge Dichter, der ich einst war, die „Kleine deutsche Verslehre“ des seinerzeit renommierten Germanisten Wolfgang Kayser (Dalp Taschenbücher Nr. 306, 7. Auflage 1960) und begann die Einzelteile seines Hudelhutsch zu verbessern, Jambus, Trochäus, Daktylus – schließlich ergab sich sogar hin und wieder ein Sonett. Aber der Hudelhutsch – man nennt das Inspiration – blieb Voraussetzung. Ohne ihn war da nichts durch Handwerk zu verfeinern und auszugestalten.

Das Buch von Stephen Fry über das Versemachen, das es jetzt auf Deutsch zu lesen gibt, wählt einen ganz anderen Zugang. Stephen Fry, als komischer Schriftsteller und Schauspieler erfolgreich – seinen Oscar Wilde möchte man als das Original erkennen, wie es von dem luziferisch schönen Lord Alfred Douglas (Jude Law) ins Verderben gerissen wird –, Stephen Fry entwickelt, nachdem er sich als Versemacher geoutet hat, das Dichten als eine Sportart, als ein Hobby, worin man es durch technische Kenntnisse und systematisches Training zu hübschen Erfolgen bringen kann.

Das Buch selbst ist ein Kompendium solcher Kenntnisse – von Jambus, Trochäus, Daktylus zu Molossus, Amphimakros, Tribrachys –, und systematische Übungen halten den Leser immer wieder in Atem. Während Wolfgang Kayser in meiner kleinen deutschen Verslehre sich feierlich bis zum Etepetete gab, macht Stephen Fry seinem Ruf als Spaßvogel alle Ehre. Weil gerade Mittagszeit ist und ich Hunger habe, lautet eine der Übungsaufgaben, schreiben Sie achtzehn bis zwanzig Zeilen in fünfhebigen Jamben, was Sie jetzt gerne respektive ungern essen würden. Später sollen Sie ausgerechnet in der Form des „Heroic Verse“ einen dramatischen Monolog dichten, wie ein total bekiffter Jungmensch vor der Polizei die zehn Gramm Cannabis wegerklärt, die sie bei ihm gefunden hat. Dass Verse eine höhere, edlere, reinere Form der Sprache repräsentieren – wie Wolfgang Kayser noch prätendieren durfte –, Stephen Frys schweinische Limericks unterlaufen einen solchen Gedanken, ehe er sich bilden kann.

Wovon Stephen Fry gar nichts hält, das sind die Gedichte, die von sich aus dem Hudelhutsch noch ähneln: freie Verse in unregelmäßigen Rhythmen, wie sie, das gibt er zu, die bedeutendsten Dichter der Moderne seit Walt Whitman geschrieben haben, Ezra Pound, T. S. Eliot, William Carlos Williams; im Deutschen kann man Gottfried Benn und Bert Brecht ergänzen. Hier setzt es einen richtigen Wutanfall, der schlecht zu dem Understatement passt, mit dem Stephen Fry immer wieder erklärt, es gehe beim Dichten doch bloß um ein Steckenpferd: „Nach hundert Jahren vers libre und freier Wald-und-Wiesen-Dichtung ist die englischsprachige Lyrik in genau dem gleichen müden und angeschlagenen Zustand wie die, die Pound und seine Zeitgenossen vorgefunden haben.“ So wie sie die englischsprachige Lyrik nach dem viktorianischen Formalismus durch den freien Vers erneuert haben, so jetzt Stephen Fry die schlaffe Gegenwartspoesie durch strenges Reglement? Plötzlich geht es nicht mehr um ein Hobby, sondern um den State of the Art – also doch der Hudelhutsch.

Die Frage ist, ob ohne den Hudelhutsch, der aus Ihrem Herzenswunsch, ein Dichter zu sein, erwächst, überhaupt ein Grund vorliegt, warum Sie Gedichte schreiben sollten. Warum nicht Töpfern, wenn Sie ein Hobby brauchen? Oder die Freuden der Digitalfotografie? Oder nach allen Regeln der Kunst einen Blumengarten anlegen? Was Stephen Fry an technischem Knowhow über das Dichten zusammenträgt, liest sich viel zu kompliziert und anspruchsvoll, als dass es einen Rentner auf Hobbysuche motivieren könnte. Und der Jungmensch, der unter der Herrschaft seines Hudelhutsch steht, wird dessen Ausarbeitung vermutlich lieber der Popmusik anvertrauen.

Das Buch wurde von Münchner Studenten mit Eifer und Gusto übertragen. Sie mussten Frys englische Exempel durch deutsche ergänzen oder ersetzen und hier und da den Kontext diskret umbauen. Manchmal wird dem Leser deswegen schwummerig. Der Satz auf Seite 252: „Ich verehre große Köche wie Jamie Oliver, Paul Bocuse und Johann Lafer“ – dieser Satz stammt gewiss nicht in toto von Stephen Fry?

■ Stephen Fry: „Feigen, die fusseln. Entfessle den Dichter in dir“. Aufbau, Berlin 2008, 475 Seiten, 22,95 Euro