Rebellen, die wissen, was sie tun

Merkwürdiges 2004: Erst stand die Band Wir sind Helden an der Spitze der Charts, am Ende wurde der Film „Die fetten Jahre sind vorbei“ zum Kinohit. Doch nicht nur diese Ereignisse markieren die Rückkehr der Gesellschaftskritik ins Herz der Popkultur

Das, was uns heute als Repolitisierung der Popkultur überrascht, gründet längst in einem stabilen Milieu„Der Kapitalismus“, heißt es bei René Pollesch, „ist irgendwie in mir drinnen, und den krieg ich nicht mehr raus“

VON ROBERT MISIK

Es war kalt, bitterkalt. Ist ja auch eine ziemlich verrückte Idee, mitten im Januar ein Open-Air-Konzert anzusetzen. Dennoch waren gut 5.000 bis 6.000 Leute in die „Arena“ in Wien gekommen, um mit dem lokalen Musikradio FM 4 Geburtstag zu feiern. Knapp vor elf Uhr in der Nacht, das Thermometer zeigte gerade minus zehn Grad Celsius, war der Hauptgig des Abends angesetzt; und es sprang jene Überraschungsband auf die Bühne, auf die alle gewartet haben: Wir sind Helden.

Da standen sie gerade ganz oben in den Charts, das Mädchen und die drei Jungs. Von der Rückkehr der Natürlichkeit war da die Rede, von der neuen „Stimme einer kritischen Generation“ (Berliner Zeitung). Ein kleines Popwunder.

Sie singen gegen Kommerz und Entfremdung („Ich will mein Leben zurück“), wirklich famose Zeilen („Die Zeit heilt alle Wunder“) und kraftvolle Verse zum Mitröhren: „Hol den Vorschlaghammer / Sie haben uns ein Denkmal gebaut / und jeder Vollidiot weiß / dass das die Liebe versaut.“ Prompt räumten sie die Echo-Preis-Verleihung, das Event der deutschen Popindustrie, ähnlich ab wie „Herr der Ringe“ den Oscar-Auftrieb.

Erstaunlich allemal: Da singen ein paar junge Leute über Konsumkritik, Kommerz und Selbstbestimmung und schlagen ein, als hätte die Welt der Teens und Twentysomethings auf solches nur gewartet. „Vielleicht“, sagt Judith Holofernes, die Frontfrau der Truppe, „vielleicht sind wir die richtige Band zur richtigen Zeit.“

So wie das Jahr begonnen hatte, so endete es auch. Mit „Die fetten Jahre sind vorbei“ landete Hans Weingartner, der austroberlinische Cineast, einen Kassenschlager. Ein antikapitalistischer Film, bei dem man lachen kann, gesellschaftskritisches Kino, das beim Publikum nicht die Bereitschaft voraussetzt, sich deprimieren zu lassen. Da schallte von FAZ bis NZZ ein einziges „Chapeau“.

Der Plot ist amüsant und gewiss mehr als eine Spur fantastisch, aber er ist realistisch in Hinblick auf das Lebensgefühl, das er abbildet: einen neuen Hang zum Rebellischen, der um seine Aporien immer schon weiß. Schon zieren die Schlüsselsätze unorthodoxe Weihnachtspostkarten: „Jedes Herz ist eine revolutionäre Zelle“; oder Jule, die auf die Frage, was sie sich erträume, antwortet: „Wild und frei leben, aber das will heute doch jeder Zweite.“

Das Thema des Films ist eine Jugend, die immer schon weiß, dass ihre Rebellionsgesten dazu verdammt sind, Zitate früherer Aufsässigkeit zu sein. Die dann und wann zwar bei G-8-Gipfeln und WTO-Tagungen gegen „die Mächtigen“ anläuft, sich aber darüber im Klaren ist, dass es nicht den einen Ort der Macht gibt, den man überrennen muss, damit die Welt besser wird; sondern dass „das System“ als Netzwerk loser und unsichtbarer Fäden begriffen werden muss und dass auch das pathetische Dagegensein bisweilen nur eine exzentrische Art des Mittuns ist. Die aber angesichts dieses Wissens plötzlich nicht mehr in zynischem Phlegma verharrt, sondern tut, macht, was sie kann, die sich bei allem Räsonnement über die Grenzen des Engagements nicht für die Grenzen entscheidet, sondern für das Engagement. Nicht ohne eine Prise Selbstironie: „Stürz das System / Und trenne deinen Müll“, heißt es in dem Stück „Rettet die Wale“ der Wiener Elektropop-Aufsteigerin Gustav.

Es gibt ein Unbehagen an der Kommerzkultur, und es gibt gleichzeitig eine gesunde Skepsis gegenüber den Gesten, in denen dieses zutage tritt. Bislang war die „neue kritische Generation“, die nunmehr laut ausgerufen wird, gelähmt durch das, was man so Utopieverlust nennt. Es gab Gründe für Dissidenz, aber keine Möglichkeit der Konsequenz. Da der linke Alltagsverstand zutiefst eingefärbt ist von der Vorstellungsreihe, Politischsein habe die Voraussetzung, dass ich nicht nur kritisiere und mir nicht nur eine bessere Welt ausmale, sondern auch einen genauen und sicheren Weg kennen muss, wie ich von der kritisierten in die ersehnte Welt gelange, wurde diese Unmöglichkeit des Konsequentseins halb zu Recht, halb irrtümlich zum Hauptindiz der allgemeinen Entpolitisierungsdiagnose.

Und nun, dafür häufen sich die Indizien, tritt eine Kohorte auf den Plan, die sich nicht schrecken lässt von der Inkonsequenz. „Vielleicht kommt jetzt wieder eine kritische Generation, und vielleicht hat es die Zeit gebraucht, um das zu durchschauen, diese Vereinnahmungsstrategie des Kapitalismus“, formulierte Hans Weingartner unlängst im taz-Interview. Auch die Kurzschlüsse des Kulturkapitalismus werden heroisch-kontemplativ respektiert, etwa der Umstand, dass man mit Antikommerzsongs zum gut verdienenden Star werden kann. Judith Holofernes: „Wir sind nicht konsequent, wir können es gar nicht sein, aber wir machen es trotzdem.“

Gepriesen seien die halben Sachen. Das, was uns heute als Repolitisierung der Popkultur überrascht, gründet längst in einem stabilen Milieu. „Vielleicht“, schreibt die Berliner Theoretikerin Katja Diefenbach, „ist der urbane Großstadtjugendliche, der mit wenig Geld auskommt, am Rande steht, aber permanent tätig ist, liest, ausgeht, Musik macht, programmiert, Videos dreht etc., eine majoritäre Figur des Minoritären geworden.“ Anders gesagt: ein Role-Model. Man macht sein Ding, tut halb mit, halb verweigert man sich, wandert mindestens mit einem Bein aus der Marktzone, deren Regeln man freilich durchaus souverän beherrscht. Gleichzeitig wächst wieder zusammen, was in den Achtzigerjahren auseinander gedriftet war: Kunstszene, avancierte Theoriecommunitys, Poplinke auf der einen, Bewegungen und Engagiertenmilieus auf der anderen Seite.

Was zunächst in der autonomen Szene spross mit ihren besetzten Häusern, Stadtteilinitiativen, die dort, wo sie überlebten, zu neuen Arten von Dienstleistungsbetrieben wurden mit einem hohen Niveau von kommunikativen Fertigkeiten, diffundierte einerseits in die Gesellschaft, traf dort aber auch auf ähnliche Gestalten: die Kreativen, die Unternehmer ihrer selbst, die Marke-Ich-Protagonisten, die ihrerseits ihr Ding machen und sich regelmäßig selbst erfinden. Und so wie Erstere mit dem Markt und dem Kommerz, den sie eigentlich verachten, ganz gut zurechtkommen konnten, so haben Letztere die Grenzen des Markts, dem sie ihre Existenz verdankten, sehr schnell zu spüren bekommen. Die Selbst-Entrepreneurs wissen um das Schale der Versprechungen des postfordistischen Kapitalismus – denn sie sind seine paradigmatischen Figuren.

Der Schnittpunkt dieser zusammenwachsenden Milieus ist genau der Ort, an denen der Künstler von jeher lebt. „In einem Klima zunehmender Freisetzung und Immaterialisierung von Arbeit ist eine Figur, die es schon immer verstand, als selbsttätiger Produzent umstürzlerische Ideen in Märkte zu verwandeln, natürlich von höchstem Interesse“, schreibt Holger Liebs in der Süddeutschen Zeitung. Doch heute drohen die Künstler „als Labormäuschen eines immer aggressiveren Kapitalismus“ zu enden.

Nun, wahrscheinlich ist solch eminente Bedrängung nicht die erste Ursache der neuen Kultur des Dagegenseins – mindestens so viel Gewicht kommt dem Wachstum der Optionen jenseits der Marktzone und einer eigentümlichen Attraktivität des Informellen zu. Und was mit einer Repolitisierung der Populärkultur nun für alle Welt sichtbar ist, hatte einen Vorlauf: die Theoriehypes von Žižek bis Negri, Kontextkunst mit Gesellschaftsanalyse-Beiprogramm wie bei der documenta 11 bis hin zu Frankfurter Kommunistenkongressen (gesponsert von der Bundeskulturstiftung); die kleinen postfordistischen Dramen, etwa von René Pollesch oder Falk Richter. Unterschiedliche Motive gewiss, aber doch Teil einer allgemeinen Symptomatik.

Mit der Diffusion aus den kleinen Kreisen der Theorie- und Kunstcommunitys in die Populärkultur erleben die dissidenten Motive freilich auch eine Herausforderung. Denn vor allem die Popmusik hat ja von Beginn an mit Gesten des Rebellischen gespielt, mit der Anklage gegen Konformität („Do the right thing“) und herrschende Mächte („Fight the power“), mit der Sehnsucht nach echten, wahren Gefühlen („Satisfaction“) – und darum weiß jeder, dass in diesem Bereich jede Revolte auch nur ein weiterer Dreh in einer immer schnelleren Verwertungsspirale ist. Alles schon bekannt, alles schon gehört: Auch die Hippies waren eine Marktnische, der Punk mündete im Kaufhauspunk mit den in Fernost gefertigten Accessoires (Nagelarmband!). Von der Idee, Protestpop könnte der Soundtrack zum Umbruch sein, sind wir längst geheilt. Und auch in der Welt des Spielfilms ist natürlich der Ausbruch aus den geordneten Bahnen, die Rebellion gegen Konventionen ein allzu bekanntes Motiv.

Doch mit dem Durchgriff des postfordistischen Kapitalismus auf die gesamte Existenz, der Politisierung des Körpers, der Ökonomisierung von Gefühlen und Affekten, tritt eine neue Lage ein, in der Authentizität nicht mehr bloß eine naive, romantische Sehnsucht ist, sondern in der die Enteignung des Eigenen und, im Gegenzug, die Selbstbehauptung des Eigenen zur Konfliktzone schlechthin wird. Der Kapitalismus, heißt es in einem dieser superschnellen Pollesch-Stücke, „ist irgendwie in mir drinnen, und den krieg ich nicht mehr raus“. Diese Konstellation erlaubt es auch der Populärkultur wieder, die alten Motive aufzugreifen, ohne sich lächerlich zu machen. Dass man im Pop und Kino wieder in dieser Sprache Geschichten erzählen kann, die politisch und wahr zugleich sind, zeigt etwas: dass eine Epoche zu Ende geht und eine neue beginnt.

Vom Autor erscheint Ende Februar zu diesem Themenkomplex im Berliner Aufbau Verlag das Buch „Genial dagegen. Kritisches Denken von Marx bis Michael Moore“