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Archiv-Artikel

Subversion auf der Plakatstellwand

WAHLKAMPF Die Parteien betonen die Bedeutung der Europa-Wahl. Wer ihre Plakate sieht, mag es nicht glauben. Da grüßen düstere Gebirge und zwangsrekrutierte Matrosen. Eine Betrachtung

Vielleicht ist das ein verworfenes Titelblatt der Titanic

Die Anfang Juni anstehende Europawahl wirft ihren Schatten voraus: Hinter jedem Busch drängen Wahlplakate ins Bewusstsein und lassen fragen: Wissen die eigentlich, was sie da tun? Ist das Geld so knapp, dass sie sich keine vernünftigen Fotografen, Designer und Texter für ihre Kampagnen leisten können? Halten sie das Wahlvolk für minderbemittelt oder stecken sie selbst in der Krise?

Die ehemalige Bundestagsabgeordnete und Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram von der CDU hat es am schlimmsten erwischt. Ihre Partei präsentiert sie als schwammige Matrone. Ihr undefinierbares Gewand scheint einen Fleischberg zu verhüllen und füllt zwei Drittel des Plakats aus – ein großes schwarzes Schattenreich, das nur dafür da zu sein scheint, einen homogenen Hintergrund für den Text zu liefern. Auf diesem schwarzen Gebirge sitzt ein kropfiger Hals, faltig wie der eines Truthahns, darauf ein Kopf, dem nichts bleibt, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Zu Senatorinnen-Zeiten sah die Dame doch ganz ansprechend aus. Kaum zu glauben, dass sie sich in der kurzen Zeit dermaßen zu ihren Ungunsten verändert haben soll. Vielleicht ist das Plakat gar kein Bewerbungsfoto – sondern ein verworfenes Titelblatt der Titanic.

Die Europaabgeordnete und kandidatin Silvana Koch-Mehrin sieht auf dem FDP-Plakat zwar wesentlich besser aus – kam aber das letzte Mal sympathischer rüber. Ist das der Preis der Macht oder auch wieder nur schlecht fotografiert? Dann der Text: Dr. SILVANA Koch-Mehrin. „Dr.“ klein, „Silvana“ groß, darunter „Koch-Mehrin“ klein. „Dr. SILVANA“ also. Was will uns das sagen? Dass wir gerne vertraulich werden können mit der schönen Dame? Dass Dr. Silvana Rat in allen Lebenslagen gibt, gerne auch in Fragen der Pubertät? Dass sie über eine Glaskugel verfügt und gegen fünf Euro eine baldige Erbschaft ankündigt?

Auch die SPD sündigt: Das künstliche Ambiente, in dem ihr Europaabgeordneter Knut Fleckenstein fotografiert wurde, ist kaum zu übertreffen. Hinter ihm versteckt sich ein schwebender Würfel mit dem SPD-Logo. Fleckenstein selbst wurde jeglicher Charakter aus dem Gesicht gebügelt. Um lokale Kompetenz zu demonstrieren, trägt der arme Mann maritim inspirierte Kleidung – praktisch Matrosenanzug. Brav, aber inspirierend ist etwas anderes.

Die CDU wirbt neben Schnieber-Jastram mit Bundeskanzlerin Angela Merkel, die bald zum Wahlkämpfen in die Stadt kommt. Es gibt schreckliche Fotos von Frau Merkel, wenn die Presse ihr übel will, mit hängenden Wangen und formloser Frisur. Und es gibt tolle Fotos, auf denen sie lacht und ihr Haar Spannkraft hat.

Warum die Christdemokraten darauf verzichten, ein schwungvolles, fröhliches Merkel-Gesicht zu zeigen, ist rätselhaft. Selbst ohne Vision und Spannkraft, wählte die CDU ein leicht verhuschtes Konterfei mit zugeschminkten und doch sichtbaren Falten – das Gesicht einer alternden Gesellschaft, die sich selbst nichts mehr zutraut. Vielleicht besteht das Kreativ-Team, das für Bilder wie dieses verantwortlich ist, ja doch aus Künstlern, die gar nicht anders können, als unbewusst tiefe Wahrheiten ans Licht zu bringen. Subversion auf Plakatstellwänden. Seien wir ihnen dankbar.GERNOT KNÖDLER