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Archiv-Artikel

Das langsame Sterben in Lokstedt

Wegen der Privatisierung des städtischen Pflegebetriebes „pflegen & wohnen“ werden Seniorenheime in Hamburg geschlossen, auch das am Lohkoppelweg. BewohnerInnen und MitarbeiterInnen sind auf der Suche nach Alternativen

„Die Spekulationen um unsere Zukunft blühen, und neue Bewohner bleiben aus“

Von Marco Carini

Der 90. Geburtstag von Miss Sophie*, Bewohnerin des Lokstedter Pflegezentrums des städtischen Trägers „pflegen & wohnen“ (p&w), droht etwas einsam ausfallen. Denn ihre Freunde leben nicht mehr hier, sondern über die ganze Stadt verteilt. Denn das Pflegezentrum vis-á-vis von Hagenbecks Tierpark wird abgewickelt; die meisten BewohnerInnen und viele MitarbeiterInnen sind längst in anderen Einrichtungen untergekommen.

Am 9. Dezember vorigen Jahres, als der Aufsichtsrat von p&w die Ausgliederung und Privatisierung des Pflegebereichs beschloss, wurde zur Gewissheit, was viele der Senioren und Bediensteten bereits ahnten. Das Pflegezentrum am Lohkoppelweg 42 läuft in der ersten Hälfte des gerade begonnenen Jahres aus. Seitdem hocken die BewohnerInnen auf gepackten Koffern; zehn von ihnen zogen bereits in den vergangenen drei Wochen in andere Heime um. Auch viele Pflegekräfte sind schon fort. Die Verbliebenen verhandeln über neue Arbeitsverträge in anderen Einrichtungen. Irgendwie ist hier jeder auf dem Sprung.

Das langsame Sterben in Lokstedt begann bereits vor Jahren, lange bevor von Privatisierung und der Schließung einzelner Heime die Rede war. Der Pflegekomplex, der vor wenigen Monaten sein 40. Jubiläum einfach ausfallen ließ, entspricht nicht mehr den heute geforderten Normen. Die oftmals kaum zehn Quadratmeter messenden Zimmer sind zum Leben zu klein, zum Sterben zu groß, Toiletten gibt es meist nur auf dem Flur.

Vor wenigen Jahren noch wurden deshalb hochtrabende Modernisierungspläne entwickelt. Und gleich wieder eingestampft. Die Statik lasse „keine Grundrissveränderungen zu“, weiß Heimleiterin Elfi Witt. Eine umfangreiche Sanierung, so stellte sich heraus, wäre teurer als Abriss und Neubau.

Seit dies bekannt ist, „blühen die Spekulationen um unsere Zukunft, und neue Bewohner bleiben aus“, beschreibt Witt den Niedergang der vergangenen Jahre. Wer will sich schon in einem Heim für sein Alter einrichten, dessen Fortbestand auf der Kippe steht. „Viele unserer Bewohner sind längst ausgezogen, weil sie die Unsicherheit nicht mehr ertragen wollten“, ergänzt Witt. Von den offiziell 156 Pflegeplätzen sind heute nur noch 58 belegt, zwei der drei Gebäudeflügel sind bereits geschlossen. Ganz langsam wird die Seniorenresidenz zum Geisterhaus.

Der 74-jährige Horst Müller, der vier Jahre hier lebte, wird am heutigen Montag die ihm vertraute Altersstätte verlassen – in einem Altonaer Heim wartet ein neues Zimmer auf ihn. Das muss er sich „erst mal mit einem anderen Bewohner teilen“, verrät der ehemalige Schlosser. Denn Einzelzimmer sind rar. „Melancholisch“ sei ihm zu Mute, sagt Müller, und dass er „gerne hiergeblieben wäre“.

Nun ist er froh, „notgedrungen froh“, zumindest eine neue Bleibe zu haben, denn viele seiner MitbewohnerInnen wüssten „noch gar nicht, wo sie hin sollen“. Etwas mulmig aber ist ihm schon: Die neuen Pflegekräfte, die neuen Heimnachbarn, das andere Essen – vieles, an das er sich nun gewöhnen muss und gar nicht will.

Seit Wochen führt Heimleiterin Witt intensive Gespräche mit den verbliebenen BewohnerInnen und Pflegekräften über deren Zukunft. Die PflegerInnen haben eine Arbeitsplatz-Garantie bei p&w und können in ein anderes Heim wechseln. Viele alte Menschen wollen wissen, wohin die Pflegekraft ihres Vertrauens wechselt, um in derselben Einrichtung unterzukommen. Denn der Draht zu dem Menschen, der einen täglich versorgt und wäscht, ist oft wichtiger und näher als der Kontakt zu den eigenen Angehörigen.

„Wir waren sauer, dass wir von der bevorstehenden Schließung aus der Presse erfahren haben“, grollt Pfleger Stefan Mittelstätt, „und doch erleichtert, dass die Hängepartie endlich vorbei ist.“ Monate der Ungewissheit hätten „die Stimmung merklich gedrückt“. Alle, die hier leben und arbeiten, hätten sich „viele Gedanken gemacht“ seit Anfang vorigen Jahres. „Nun ist es jedenfalls klar“, sagt Mittelstätt. Glücklich klingt er nicht.

Auch seine Kollegin Zafia Urbanczyk, die seit zwölf Jahren in Lokstedt pflegebedürftige Menschen betreut, spricht von „einem Wechselbad der Gefühle“, in dem sie sich das gesamte vergangene Jahr befunden hätte. Nun hat sie einen neuen Job in Aussicht. Und damit wieder eine Zukunft.

Spätestens Mitte dieses Jahres wird Witt das Licht ausmachen und das Pflegezentrum das letzte Mal abschließen. Anschließend soll das 10.000 Quadratmeter große Gelände der Liegenschaft zurückgegeben und zu Geld gemacht werden. Umfangreiche Sicherungsmaßnahmen für den verwaisten Gebäudekomplex, dessen Zukunft in den Sternen steht, sollen dafür sorgen, dass sich hier keine ungebetenen Gäste einnisten. Denn das, so weiß „p&w“-Sprecher Winfried Sdun, „beschäftigt die Nachbarn hier am allermeisten“.

* Name geändert.