: Der Auftakt
ZORN Die bisher größte Demonstration seit Ausbruch der Krise wird nicht die letzte bleiben, sind sich Gewerkschafter sicher
■ Mitglieder: 2008 hatten alle Einzelgewerkschaften des DGB zusammen 6,37 Millionen Mitglieder. 1999 waren es noch 8,04 Millionen; 1991 gar 11,8 Millionen. In 18 Jahren hat der DGB 46 Prozent seiner Mitglieder verloren.
■ Einzelgewerkschaften: Die größte ist die IG Metall mit 1,9 Millionen Mitgliedern. Es folgen die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di (1,1 Millionen) und die IG Bergbau, Chemie, Energie (560.000).
■ Trendwende: Im Jahr 2008 konnten viele Einzelgewerkschaften den Mitgliederschwund der vergangenen zwei Jahrzehnte aufhalten. Die IG Metall hielt die Zahl stabil, Ver.di und die IG BCE verzeichneten nur kleine Verluste. Die IG Metall freute sich über 119.000 Neuaufnahmen und ist zuversichtlich, von der Krise zu profitieren.
■ Männerüberschuss: Nur 32 Prozent der Mitglieder sind Frauen.
AUS BERLIN FELIX LEE
Die erste Reihe sieht gut aus für Rot-Grün: Der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering trägt das Fronttransparent der großen Demonstration des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), gleich neben ihm läuft Wolfgang Thierse. Auch die Grünen-Politker Renate Künast, Cem Özdemir Reinhard Bütikofer lassen es sich nicht nehmen, ganz vorne Flagge zu zeigen.
Doch mit der ersten Reihe ist es nicht getan. Denn ansonsten sind keine Fahnen der Grünen oder der SPD zu sehen. „Was? Die Sozen laufen mit?“, fragt in der hinteren Reihe Christian Wolf, IG-Metaller aus Heilbronn. Davon habe er nichts mitgekriegt. „Vielleicht auch besser so“, sagt der 34-Jährige. Auf die SPD sei er momentan ohnehin nicht gut zu sprechen.
Rund 100.000 Menschen sind dem Aufruf der Gewerkschaften gefolgt und demonstrieren am Samstag in Berlin gegen die derzeitige Krisenpolitik der Bundesregierung und für ein soziales Europa. „Die Krise bekämpfen – Sozialpakt für Europa“, lautet das Motto. Es ist die bisher größte Demonstration in Deutschland seit dem Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise.
Am Wochenende protestieren mehrere zehntausende Gewerkschafter in Brüssel, Prag und Madrid. Nach Angaben des DGB sind insgesamt 330.000 Menschen in Europa auf der Straße. Die meisten dürften in Berlin zusammengekommen sein.
Seit Freitagabend um 8 Uhr sei er im Bus gewesen, erzählt Christian. 600 Busse hätten die Gewerkschaften bundesweit organisiert, 17 Sonderzüge seien auf den Weg nach Berlin gewesen. „Das ist schon eine gigantische Logistik, über die der DGB verfügt“, findet Christian. Er arbeitet für einen Autozulieferer. Seit Februar befindet er sich in Kurzarbeit. Viel Zeit, sich über die Ursachen der Krise Gedanken zu machen. Im Süden sei die Stimmung bereits am Brodeln, erzählt er.
Mit bloß einer Stunde Verspätung bewegt sich der kilometerlange Demonstrationszug durch den Berliner Stadtteil Moabit in Richtung der Prachtallee Straße des 17. Juni. Rote und rot-weiße Fahnen der Gewerkschaften Ver.di, IG Metall und IG BAU sowie der Linkspartei dominieren das Bild.
Das Wort „Zorn“ steht auf einem großen Transparent geschrieben; „Kapitalismus = Krise“ auf einem anderen. Dazwischen läuft der besonders lautstarke schwarz-gelbe Jugendblock der IG-Metall. Mit der Offensive „Operation Übernahme“ haben sich die Auszubildenden zusammengetan, bei denen wegen der Krise klar ist, dass sie nach ihrer Ausbildung nicht in den Betrieben bleiben dürfen. „Während die meisten Beschäftigten bisher bloß auf Kurzarbeit gesetzt wurden, sind die Jugendlichen bereits jetzt unmittelbar betroffen“, erzählt Christian.
Die Demonstration nähert sich der Siegessäule. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer begrüßt zunächst freundlich die vielen Demonstrantinnen und Demonstranten, er freut sich sichtlich, dass sie so zahlreich erschienen sind.
Doch schnell schwenkt er um. Mit wütender Mine geißelt er die „Zocker“ des Finanzmarktes, die die Krise verursacht hätten, und übt scharfe Kritik an all denjenigen im politischen Establishment, „die alle Schleusen für Voodoo-Geldgeschäfte geöffnet und dabei jeden Schutzdamm gegen die grenzenlose Gier eingerissen haben“. Die Eliten in Politik und Wirtschaft hätten angesichts der Krise „jämmerlich“ versagt, sagt Sommer und fordert eine „eine Umkehr“. Deutschland brauche dringend ein drittes Konjunkturprogramm, das seinen Namen verdiene und die Binnenkonjunktur ankurbele.
Und dann hebt Sommer die Faust. Es müsse dafür gesorgt werden, dass sich eine solche Krise niemals wiederholen könne. Wenn nicht energisch gehandelt werde gegen die Krise und den Krisenverursacher, „dann wird das Folgen haben für Demokratie und sozialen Frieden“. Dazu gehöre, dass die Opfer der Krise nicht noch die Kosten der Krise tragen dürften. „Die Verursacher müssen zahlen“, ruft Sommer unter großem Beifall der Demonstranten. Als der DGB-Vorsitzende das sagt, bekommt Christian feuchte Augen. „Es ist schon eine schamlose Sauerei, dass sich die Banker nicht einmal für die Misere entschuldigt haben“, meint Christian. „Sie haben die Welt an den Rand des Ruins getrieben, und wir dürfen das nun ausbaden.“ Das sei schon ungerecht.
Nach Abschluss der Kundgebung begibt sich Christian mit seinen Kollegen in Richtung der Busse. Er glaubt, dass die Regierung bis zur Bundestagswahl alles daran setzen werde, die Krise zu deckeln. Spannend werde es nach Wahl am 27. September werden, sagt er. Dann würden die Verteilungskämpfe beginnen und es auch mit der Kurzarbeit vorbei sein. „Wir müssen uns auf einen heißen Herbst gefasst machen.“