: „Man kann sparen, ohne die Versorgung zu verschlechtern“
Ingo Kailuweit, Vorstandschef der Kaufmännischen Krankenkasse, äußert sich im taz-Gespräch zur Gesundheitsreform, blutigen Entlassungen und Gentests zur Früherkennung von Krankheiten
Interview:Marco Carini
taz: Sie glauben trotz gesundheitsreformbedingter Überschüsse der Krankenkassen nicht an generelle Beitragssenkungen. Warum?
Ingo Kailuweit: Die Kassen hatten Anfang 2004 Schulden von 800 Milliarden Euro. Das bedeutet eine jährliche Zinsbelastung von rund 300 Millionen Euro, die schnellstens abgebaut werden sollte, weil dieses Geld im Gesundheitssystem fehlt. Das wird politisch anders gesehen, da der Beitragssatz unbedingt auf 13,6 Prozent gesenkt werden soll. Meine Prognose für 2005 lautet in diesem Spannungsfeld: Der Beitragssatz für die Versicherten wird nicht sinken.
Welches sind die zentralen Schritte bei der weiteren Reform des Gesundheitssystems?
Wir haben heute eine Dreiecksbeziehung zwischen Versichertem, Arzt und Kasse, in der wir nur minimalen Einfluss auf die Versorgung des Patienten und auf die Bezahlung der Ärzte nehmen können. Wo uns das aber wie beim Arbeitsunfähigkeitsmanagement oder bei der Hilfsmittelversorgung gelingt, bekommen wir eine effizientere und auch kostengünstigere Versorgung hin. Solche Steuerungsmöglichkeiten müssen deshalb ausgebaut werden.
Wer die Kassen steuern lässt, landet bald bei der Beschränkung der freien Arztwahl!
Ich bin ein Verfechter der freien Arztwahl. Die Frage aber lautet: Wie schaffen wir es, mehr Qualität in die Versorgung zu bringen? Etwa, indem der Hausarzt, der sich am Hausarztmodell beteiligt, regelmäßig an Fortbildungen teilnimmt, dadurch über das aktuelle medizinische Wissen verfügt und Patienten rechtzeitig und richtig diagnostiziert. Wir können dann sagen: Liebe Patienten, folgende Ärzte haben bestimmte Qualitätsnachweise erbracht. Damit legen wir einen Fokus auf diese Ärzte. Solche Steuerungsmethoden brauchen wir.
Haben sie eine Vision des Gesundheitssystems 2010, die gleichzeitig stabile Beiträge und eine optimale Patientenversorgung garantiert?
Wir müssen raus aus der politischen Einflussnahme und brauchen mehr Vertragsrechte, um etwa mit Krankenhäusern und Rettungsdiensten Einzelverträge abzuschließen. Sonst müssen wir unabhängig von Qualität und Effizienz alles bezahlen, was angeboten wird. Über einen wirklichen Vertragswettbewerb müssen alle Akteure des Gesundheitssystems gezwungen werden, sich um die Versicherten zu bemühen.
Etwas konkreter bitte!
Wenn wir etwa meinen, in Hamburg dürften zwei orthopädische Kliniken reichen, würden wir Anbietern keine Verträge mehr geben, bei denen wir eine optimale Versorgung nicht für gewährleistet halten. Orthopädische Eingriffe sind planbare Operationen. Ein Patient aus Bargteheide kann sich auch in Hamburg operieren lassen, wenn er weiß, die medizinische Betreuung ist hier optimal. So können wir es schaffen, die Qualität der Versorgung zu erhöhen.
Sie reden der Spezialisierung und Zentralisierung das Wort, abseits von einer wohnortnahen Versorgung.
Bevor in irgendeinem Dorf ein Kreiskrankenhaus errichtet wird, würde ich eher Rettungshubschrauber anschaffen. Man kann die Grundversorgung sicher auch in Allgemeinkrankenhäusern lassen, etwa Mandel- und Blinddarmoperationen. Alles andere würde ich in spezialisierterer Form planen. Zur besseren Orientierung der Versicherten gilt es, die Transparenz in den Kliniken zu erhöhen: Die Anzahl der Operationen und die Komplikationsraten können dabei Eckpunkte sein.
In vielen Kliniken ist schon heute die„blutige Entlassung“ gang und gäbe: mit der Folge, dass mehr Patienten nachbehandelt werden müssen.
Es kommt sicher vor, dass Kliniken darauf achten, die Mindestliegezeiten für eine Behandlung nach Möglichkeit nicht zu überschreiten, weil das ihr Geld kostet. Wir haben die Anschlussheilbehandlung inzwischen an uns gezogen, weil es Krankenhäuser gab, die Rehabilitationskliniken gedrängt haben, auch „blutige“ Patienten anzunehmen, die noch gar nicht rehabilitationsfähig waren.
Solche Erfahrungsberichte motivieren nicht gerade, sich behandeln zu lassen!
Es geht leider noch weiter, weil das neue Fallpauschalen-Abrechnungssystem schwer steuerbar ist: Die Zahl der Nebendiagnosen nimmt permanent zu, denn je „kränker“ der Patient ist, desto höher ist die Pauschale. Wir beobachten das sehr genau, um hier zu steuern.
Wie soll das gelingen?
Wir brauchen eine Aufklärung des Versicherten: Dass er genau sehen kann, was der Arzt abrechnet. Zudem wird die geplante Gesundheitskarte Transparenz bringen. Wenn wir eine integrierte Versorgung aufbauen, werden wir die Ärzte ganz anders kontrollieren als heute: Es werden Leitlinienbehandlungen vereinbart und neue Formen der Vertragsgestaltung entstehen. So haben wir schon heute mit einer Klinik für Rückenleiden vereinbart: Wenn die Krankengeldquote ihrer Patienten auf einen bestimmten Wert zurückgeht, bekommen sie einen Bonus. Das sind überprüfbare Qualitätskriterien. Wer Behandlung optimiert, soll einen Vorteil haben.
In ihren Ausführungen bleibt die Prävention unterbelichtet: Macht es Sinn, Vorsorge zu belohnen, wie heute schon im zahnärztlichen Bereich?
Das kann man, wenn man es intelligent tut, auch in anderen Bereichen. Prävention ist das zentrale Thema und die Antwort auf steigende Beitragssätze in den nächsten Jahrzehnten. Gerade von Männern werden die Angebote der Gesundheitsvorsorge viel zu wenig genutzt. Wir bonifizieren deshalb schon heute Check-up-Untersuchungen und Darmspiegelungen. Wir müssen aber aufpassen, dass sich der Arzt nicht daraus wieder einen neuen Bedarf schafft.
Die Praxisgebühr bewirkt das Gegenteil: Gerade bei sozial schwächeren Patienten verhindert sie den rechtzeitigen Arztbesuch. Statt Prävention also Krankheitsverschleppung!
Die Praxisgebühr ist der richtige Ansatz, doch nicht pauschal für alle Versicherten. Es muss Befreiungen geben für Gesellschaftsgruppen, die sich das nicht alleine leisten können.
Trotzdem: Jede zusätzliche Hürde für den Arztbesuch unterläuft in der Tendenz rechtzeitige Behandlung.
Fakt ist: Unnötige Arztbesuche und Medikationen gehen durch dieses Instrument auch bei den Personengruppen zurück, für die 10 Euro kein Problem sind. Genau das ist gewollt.
Das Krankenhauspersonal klagt, durch eine ungeheure Arbeitsverdichtung weniger Zeit für den Patienten zu haben.
Man kann sparen, ohne die Versorgung zu verschlechtern. Ein Beispiel: Einige Krankenhäuser richten Restaurants ein, in denen alle Patienten, die nicht ans Bett gefesselt sind, ihre Mahlzeiten einnehmen. Warum also Krankenschwestern mit Buffetwagen an jedes Bett schicken, um das Essen zu verteilen? Die Krankenhäuser müssen selbst den Ball aufnehmen, um Kosten zu senken und gleichzeitig ein größtmögliches Wohlfühlen der Patienten zu organisieren.
Die Entlohnung in den Kliniken wird immer schlechter. Das führt zu weniger Motivation, was dann auch die Patienten zu spüren bekommen.
Meine Erfahrung aus unserem Unternehmen ist: Wenn ich den Mitarbeitern transparent mache, warum Einschnitte notwendig sind und wo die Chancen einer Umstrukturierung liegen, geht jeder mit. Dazu gehört aber ein stimmiges Gesamtkonzept.
Sie setzen sich für Gentests ihrer Versicherten ein, um Erbkrankheiten herauszufiltern. Was bringt das, und wo müssen hier die Grenzen sein?
Zum einen muss es für die gentechnische Diagnostik eine Erfolg versprechende Therapie geben. Dann muss das ganze freiwillig sein. Drittens: Die gewonnenen Informationen bleiben ausschließlich im Wissen von Patient und Arzt. Keine Kasse, keinen Arbeitgeber geht das etwas an. Unter diesen Voraussetzungen bietet die Gendiagnostik mehr Chancen als Risiken.
Solche Tests geben meist nur den Hinweis auf genetische Krankheitsveranlagungen. Ein Wissen, das erst einmal zur Verunsicherung des Betroffenen statt zu mehr Klarheit führt.
Es gibt ja schon heute – ob Brustkrebs, Herzinfarkt oder Diabetes – Krankheiten, wo bei familiärer Vorbelastung in kürzeren Abständen kontrolliert wird. Dasselbe passiert bei Gentests. Das Entscheidende ist auch hier eine engmaschigere Kontrolle, die seelisch nicht belastet, aber bei der Früherkennung hilft. Wenn ich meine Veranlagung kenne, kann ich vorbereiteter mit einem möglichen Krankheitsausbruch umgehen oder diesen gar durch Anpassung meiner Lebensweise verhindern.
In Hamburg wird der Landesbetrieb Krankenhäuser privatisiert. Chance oder Risiko für Patienten und Mitarbeiter?
Der Weg ist definitiv nicht ohne Risiken. Krankenhäuser haben auch eine soziale Aufgabe. Ein Privatunternehmen wird immer Profit erwirtschaften wollen. Wenn die Leistung stimmt, ist dies kein Problem. Für den Versicherten zählt ausschließlich die Güte der Behandlung – unabhängig davon, um was für ein Krankenhaus es sich handelt. Unsere Aufgabe wird es sein, hier für Transparenz zu sorgen, damit allen Versicherten der Zugang zu den leistungsstarken Häusern erhalten bleibt. Eine Zwei-Klassen-Medizin im Krankenhausbereich müssen wir verhindern!“