Die Genügsame

taz-Serie „Arbeit ist das halbe Leben“ (Teil 7 und Schluss): Ayse G. arbeitet im Dönerimbiss ihres Vaters. Der ist ihre ganze Welt. Andere würden das als trostlos bezeichnen, sie ist zufrieden damit

von Johannes Gernert

Irgendwann, so etwa nach dem vierten Bier, sagt einer der Stammgäste, dass Ayse an ihren freien Tagen mal etwas unternehmen solle. Rausfahren ins Grüne. Sich die Stadt ansehen. „Man muss doch auch ein bisschen was anderes machen“, sagt er in recht besorgtem Ton. Und Ayse antwortet so forsch, wie sie es sich hier angewöhnt hat, dass sie in Potsdam schon gewesen ist und in Babelsberg oder wie das heißt. Sie sei schließlich in Berlin aufgewachsen und kenne folglich auch die Stadt. „Mein Leben ist nicht seit dem ersten Jahr nur Dönerschneiden.“

Im Augenblick aber, sagt Ayse, gebe es wenig Wichtigeres als den Imbiss. „Auch wenn ich frei habe, bin ich mit meinen Gedanken immer hier im Laden. Ich denke, ich verpasse was Gutes. Und wenn es mir schlecht geht, kriege ich Kraft von meinen Stammgästen.“

Es muss eine eigentümliche Kraft sein, die von diesen mittelalten, grauen Menschen ausgeht, die da vor Bieren, Weinen und Schnäpsen am Tresen sitzen. Nach jedem neuen Glas sprechen sie ein wenig langsamer, aber auch ein bisschen lauter, wiederholen, verhaspeln sich, stürzen verbal, rappeln sich auf, heben die Zeigefinger zum Angriff. Sie trinken und reden sich in den Morgen hinein. Und Ayse, die ihren Nachnamen nicht sagen will, wischt währenddessen über den Tresen, schneidet Fleisch vom Spieß, zapft Bier, schenkt Wein ein, spült zwischendurch ein Glas und wischt wieder über den Tresen.

Seit gut zwei Jahren arbeitet sie im Cilem-Imbiss ihres Vaters, im „Döner, der nie schläft“, der rund um die Uhr geöffnet hat. Sie ist vorher zur Hauptschule gegangen und hat danach eine Ausbildung zur Bäckereiverkäuferin angefangen. Das Brötchendrehen hat ihr nicht gefallen, das frühe Aufstehen, also hat sie die Lehre abgebrochen. Wenig später übernahm ihr Vater den Schöneberger Dönerladen. Seitdem geht Ayse oft schlafen, wenn die Bäcker zu arbeiten anfangen. Und sie steht auf, wenn für andere die Schule aus ist. Mittags um eins, manchmal auch erst um zwei oder um drei. Dann geht sie runter in den Laden und isst erst mal einen Chicken-Döner. So macht sie das fast jeden Tag. „Ich fühle mich unwohl, wenn ich keinen Döner esse“, sagt sie.

Ayse hat keine Angst. Auch nicht nachts. Eigentlich sind immer ein paar Stammgäste da. Gegen Mitternacht kommt meist ihr Vater. Außerdem ist sie energisch. Wenn einer zu viel getrunken hat, schickt sie ihn nach Hause. Und man folgt hier ihren Regeln. Es wird nicht angeschrieben, auch nicht für Stammgäste. Weil der Mann in der Lederjacke nicht genug Geld dabei hat, kann er nur vier Bierdosen mitnehmen, nicht fünf. Da mag er Ayse noch so lange seine Liebe gestehen. „Du bist auch schon ganz schön blau angemalt“, sagt sie in solchen Fällen gerne.

Ayse ist jetzt zwanzig. Ihr Freund ist kurdischer Herkunft, so wie sie. Sie haben sich vor einigen Jahren auf einer Hochzeit von Verwandten kennen gelernt. Vielleicht heiraten sie irgendwann mal. Vielleicht bekommt sie dann Kinder. Sie würde deswegen ungern aufhören zu arbeiten. „Schwangerschaft ist keine Krankheit“, sagt sie.

Wenn ein Stammgast sie mal wieder fragt, ob da nicht etwas anderes ist außer Arbeit – irgendwelche Pläne, Wünsche, Träume –, dann schaut sie sehr lange vor sich hin. Den Führerschein will sie machen. Dafür übt sie Theorieaufgaben. Aber sonst? Sie muss nicht unbedingt in Urlaub fahren, sie hat das auch bisher nicht oft gemacht. In der Türkei war sie noch nie. Das Jugendamt hat ihr mal einen Austausch nach Holland finanziert. Da war sie elf. Sie war später auf Klassenfahrt in Italien. Ab und zu besucht sie mit der Familie Verwandte in Westdeutschland. Im Grunde aber ist ihr das kleine Imbiss-Universum gerade groß genug. Die Luft riecht nach Bratfett, Bier und Rauch. Überm Notausgang hängen Urlaubsgrüße der Stammgäste. Gerahmte Postkarten. Silvester feiern sie hier alle zusammen. Nico sitzt am Tresen und versucht zu erklären, warum er seine Nächte immer wieder bei Ayse im Imbiss verbringt. Er zahlt, als er geht, zwei „Multi“, diesen Vitaminsaft, und nicht zehn Bier wie manch anderer. Er hat eine Weile durch die Theoriebögen für Ayses Führerscheinprüfung geblättert. Sie haben ein bisschen gescherzt, herumgealbert. Nico sagt: „Die Stimmung hier reißt einen einfach mit.“ Er redet dabei so langsam und dehnt den Satz derart ins Unendliche, dass man ihn in diesem kurzen Moment für einen wirklich begnadeten Kabarettisten halten könnte.

Ab und an taucht ein wenig Laufkundschaft aus der Welt da draußen auf und bestellt einen Döner. Jenes Wort, das sich manchem von ihnen aufdrängen könnte, um Ayses Arbeitsleben zu beschreiben, ist ganz und gar unzutreffend. „Trostlos“ ist es hier nicht. Nicht für Ayse.