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Archiv-Artikel

Sie sehen aus wie wir

SAMMELN An der Alster, auf dem Kiez, beim HSV und bei St.Pauli: Die Flaschensammler sind überall. Und sie sind ein Spiegel für all diejenigen, die Angst haben vor dem Abstieg

VON ROGER REPPLINGER

Auch jetzt, in der Krise, sind ein paar so reich oder so arm, dass eine Rezession wenig ändert. Das Bürgertum dagegen hat etwas zu verlieren und deshalb Angst. An der Alster gibt es einen, der hat keine. Der feuert am frühen Morgen die Läufer mit „running good“, „running very good“ an. Während er gebückt im Gras sucht. Es gibt einen anderen in der Schanze, der tanzt. Es gibt sie auf dem Kiez, an der Elbe, bei Heimspielen des FC St. Pauli auf dem Heiligengeistfeld und beim Hamburger SV: Flaschen- und Dosensammler.

Der Erste steht im S-Bahnhof Stellingen. Eineinhalb Stunden vor Spielbeginn ist sein Einkaufswagen halb voll. Er hat noch ein paar leere Taschen in Reserve. In eine Lache unter dem Wagen tropfen Bier, Red Bull, Wodka, Cola. Frank ist 42 und wäre ohne das Flaschensammeln „ganz schlecht dran“. Mit Pfand ist er „schlecht dran“. Frank ist bei jedem Heimspiel, Partien am Sonntag sind schwierig, weil dann die Dosen bis Montag zwischengelagert werden müssen.

Trittin ist schuld

In einigen Supermärkten seiner Wohngegend hat Frank Hausverbot, „weil die das mit dem Pfand nicht gerne sehen“. Gibt’s beim Einlösen des Pfandguts Ärger, sagt Frank: „Leute, das Pfandgesetz hab’ nicht ich gemacht.“ Sondern der Trittin. Manchmal muss er die Flaschen und Dosen portionieren. Dann bringt er nur das Pfandgut in den Supermarkt, das dort auch verkauft wird. Es gibt Märkte, die alles nehmen. Es geht um Cent, aber die Menge macht’s. Für den Markt und für Frank.

Unter den Fans hat Frank Stammkunden, die ihr Leergut in Einkaufstüten zu ihm bringen. Ist wie eine Spende. Er bekommt auch mal eine volle Flasche, am liebsten ist ihm Bier, oder Geld. Im S-Bahnhof Stellingen stehen heute fünf Einkaufswagen, die Stellplätze machen die Männer untereinander aus.

Vier der fünf Wagen gehören einem anderen Sammler, der schon mal neben einem Fan steht, der gerade trinkt, und darauf wartet, dass die Flasche leer wird. Dann schauen sich Fan und Sammler in die Augen, und der Fan schüttelt den Kopf, weil er sich vom Sammler nicht dazu nötigen lassen will, schneller zu trinken.

Guten Willen zeigen

„Unter den Flaschensammlern gibt es nie Stress, vielleicht mal mit den Asylanten, weil die nicht gleich verstehen, wie das hier läuft“, sagt Frank. Frank macht 40 bis 50 Mücken an einem guten, 25 an einem schlechten Tag. „Es gibt Spiele, da krieg’ ich kaum was“, sagt er. Frank, der von Hartz IV und Ein-Euro-Jobs lebt, versucht auf diese Weise, von seinen Schulden herunter zu kommen. Er wird in den nächsten Tagen Privatinsolvenz anmelden, und möchte den Gläubigern guten Willen zeigen, indem er ihnen ein paar Euro anbietet.

Da legt einer mehrere Flaschen in seinen Korb. „Danke“, sagt Frank, der sich gerne mit den Fans unterhält. „Ich beruhige sie, wenn die Stimmung aufgeladen ist“, sagt er. Das hilft den Fans und ihm hilft, „dass ich nicht nur zu Hause in der Bude hocke, wo mir die Decke auf den Kopf fällt“. Frank hat die Kiste, auf der er sitzt, weil seine Knie langes Stehen nicht mitmachen, in eine Ecke gestellt. Da hockt er, wenn zwischen den ankommenden S-Bahnen Pause ist, und guckt sich um. Andere Flaschensammler lassen ihren Wagen häufiger stehen und suchen nach Dosen. Das macht Frank nicht, weil er weiß, dass herrenlose Einkaufswagen weniger Dosen kriegen.

Es geht abwärts

Es gibt hier auch ambulante Sammler. Ein älterer Mann mit Glatze und Brille, in grauer Bundfaltenhose und grauer Windjacke sammelt und kontrolliert die Mülleimer. Ein anderer in rotem Pullover und guten Schuhen. Sie sehen aus wie wir. Daran kann man sehen, wie frisch das Elend über sie hereingebrochen ist. Wie es mit uns abwärts geht.

Hinter den Tunnels, dort, wo sich die Fans in Shuttle-Fahrer und Fußgänger teilen, steht Gerd, 48 Jahre alt, der „60 bis 70 Euro im Monat mit Flaschensammeln verdient“. Reicht für Tabak und Bier. Bei ihm läuft’s heute schlecht. Die Woche über sammelt er auf dem Kiez, der von einer selbst organisierten Tag- und Nachtschicht abgegrast wird, an den Landungsbrücken und auf dem Fischmarkt. Seine Tour beginnt zwischen zehn und zwölf Uhr am Vormittag.

Die Bahn hat geklagt

Gerd bekommt 360 Euro Rente, die Miete zahlt das Amt. „Ich muss ja von irgendwas leben“, sagt er, „ohne Flaschenpfand würde es nicht gehen.“ Gerd schätzt, dass es in Hamburg „so zwischen 2.000 und 2.500 regelmäßige Flaschensammler gibt, dazu kommen diejenigen, die es ab und zu mal machen“. Ein paar arbeiten ständig auf Bahnhöfen und gehen durch Züge, die ein paar Minuten Aufenthalt haben. Die Bahn AG hat einen dieser Sammler mit dem Argument verklagt, das liegen gelassene Pfandgut gehöre ihr. Die Klage wurde abgewiesen.

„Es sind viele Alte dabei“, sagt Jens, der mit Gerd zusammenarbeitet, „Rentner, Obdachlose, Arbeitslosengeld II-Empfänger, Schwerbehinderte.“ Gerd dreht sich eine Zigarette, plötzlich ist er weg. Er hat ein Klimpern gehört und fischt zwischen den Leuten im Tunnel eine Flasche hervor. „Wenn von uns jemand mehr als einen Fünfer in der Tasche hat, ist er reich“, sagt Gerd. Auch er bedankt sich für jede Dose. „Ich krieg’ ein bisschen Geld und hab Unterhaltung. Nur zu Hause sitzen, da verblödet man“, sagt er.

Die Missgünstigen

Auf dem Fußweg ins Stadion steht alle hundert Meter ein Einkaufswagen, ein Mann oder eine Frau mit großen Tüten. Seit es auf Dosen und Flaschen Pfand gibt, liegt kaum mehr was in den Büschen. Wäre dort was, läge das Geld auf der Straße, und das war noch nie so.

Ein paar Stadionbesucher zerdrücken ihre Dose, zerschlagen ihre Flasche oder werfen sie in die Büsche, bevor sie bei den Flaschensammlern landet. Gerade sie ahnen, dass der Abstand zwischen ihnen und den Sammlern nur groß aussieht. Und wie schnell es geht, dass er weg ist.