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Archiv-Artikel

Der Verein sucht dich aus

HERTHA Wer geistig umnachtet ist, trägt keine Schuld. Wie aber erklärt man seinen Schulkameraden, dass man Hertha-Fan geworden ist? Selbstbefragung eines jungen Manns, der nicht erst seit dieser Saison dabei ist

Es war ein Team, das zu Berlin passte: talentiert, doch undiszipliniert, in seinen Leistungen stark schwankend und das Maul immer ein wenig zu weit aufgerissen

VON JURI STERNBURG

„Bist du Dortmund- oder Bayern- Fan?“ war die erste Frage an meinem ersten Schultag. „Hertha BSC!“, antwortete ich und erntete mehr als nur ungläubiges Kopfschütteln. Bloß ungläubiges Kopfschütteln ernteten zu jener Zeit etwa St.-Pauli-Fans oder diejenigen, die gar kein Fußball guckten. Wie im Islam, so gilt auch im Fußball: Wer geistig umnachtet ist, trägt keine Schuld. Und wer gar kein Fußball guckt, muss geistig umnachtet sein. Insofern wurden selbst die Waldorfkinder ohne TV-Gerät akzeptiert; als Wirrköpfe oder geistig Arme. Ein Hertha-Fan jedoch weiß genau, was er tut, und ist somit selbst schuld an seiner Außenseiterrolle. Von einem Verein namens Hertha BSC hatten die meisten 7-jährigen zwar noch nie gehört, doch spätestens, als sie sich bei ihren Vätern nach dieser Phantomtruppe erkundigt hatten, war der Drops endgültig gelutscht.

Söldnertruppe Hertha

„Hertha is ’ne Söldnertruppe!“, „Zu Hertha jehn nur Faschos und Bonzen!“ oder „Berliner Fußball jibts nur inna alten Försterei!“ waren noch die angenehmeren Verleumdungen. Herthas fußballerische Erfolge ließen damals stark zu wünschen übrig, einzig und allein die dritte Halbzeit wurde ab und an zu unseren Gunsten entschieden. Noch heute werden in vielen Kneipen Tore gegen Hertha euphorischer bejubelt als ein Treffer des eigenen Vereins. Eine Kultur des Versagens in Kombination mit Größenwahn und Großstadtarroganz, so sahen und sehen die meisten dieses Team. So richtig falsch lagen sie da nicht, und erst jetzt wird es richtig kompliziert. Was tun, wenn man den eigenen Verein nicht mag? Wenn man weder mit der Einkaufspolitik noch mit dem Management oder dem Trainer konform geht? Wenn man einen Großteil der Anhänger nicht mal in der Tram neben sich stehen haben will, geschweige denn ein – sowieso kritisch betrachtetes – Wir-Gefühl entwickeln möchte, aber trotzdem fanatischer Fan ist? Einfach zu einem angeseheneren und von Missgunst verschonten Konkurrenten wie Bremen oder Hamburg wechseln, kam für mich nie infrage. Solche Menschen kamen aus Berlin oder Freiburg und waren Dortmund-Fans, heute kommen sie aus Dortmund oder Aachen und feuern die TSG Hoffenheim so lange an, bis diese ihren Höhenflug beendet hat. Für mich stand von Anfang an fest, dass ich mir keinen Verein „aussuchen“ kann. Der Verein sucht dich aus.

Es war 1988, entspannte fünf Jahre nach meiner Geburt. Wir saßen im Olympiastadion. Nieselregen vervollständigte die ärmliche Kulisse, und ich wusste nicht so recht, was auf dem Rasen vor sich ging. Die gefühlten 500 Zuschauer brüllten sich die Kehlen heiser, während ich – fasziniert von den unzähligen Stufen – die Treppen auf und ab lief. Mein Vater hatte mich zu einem Hertha-Spiel mitgenommen – eigentlich hatte er auch sich selbst nur mitgenommen, denn weder verbrachte er seine Freizeit in Fußballstadien, noch sympathisierte er mit den damals noch größtenteils aus organisierten Neonazis bestehenden Berliner Fans. Im Gegenteil, auch für ihn war der Hauptstadtclub eine Art Feindbild. Doch in diesen Tagen besuchten wir gemeinsam die uns unbekannten Teile der Stadt, in der wir lebten, und so gingen wir in Moscheen, Synagogen, Kirchen – und ins Olympiastadion.

60.000 Fanatiker

Es gab zwei Themen, die in unserer Familie keine Rolle spielten: Religion und Sport. Eine anderes Thema – die Politik – war hingegen allgegenwärtig, und so wusste ich sehr genau, dass 60.000 gleichgeschaltete Fanatiker im Olympiastadion die älteren Generationen an so einiges erinnern. Aber was blieb mir anderes übrig? Während meine Schulkameraden anfingen, auf Demos zu gehen und Punkmusik zu hören, um ihre Eltern zu schocken, suchte ich vergeblich nach einer Möglichkeit der sanften Rebellion. Meine ersten Mai-Krawalle erlebte ich an der Seite meiner Eltern im zarten Alter von acht Jahren, und Punk bekam ich schon um die Ohren geknallt, als ich noch am Mutterkuchen nagte. Während andere Jugendliche ihre Eltern mit der Rezension linksradikaler Flugblätter aus der Reserve locken wollten, wurden diese Flugblätter bei uns zu Hause geschrieben. Was also tun? Schon in relativ jungen Jahren bekam ich zu hören, was jeder zu hören kriegen sollte: „Tu, was immer dich glücklich macht. Solange du kein Neonazi oder Polizist wirst, werden wir dich immer unterstützen!“ Gebongt!

Als 1997 der Wiederaufstieg gelang und ein Rentner namens Michael Preetz Hertha in die Champions League schoss, war niemand besonders euphorisch, von der B.Z. und einigen Eckkneipen mal abgesehen. Es folgte das, was auf jede Aktion von Hertha folgt: Missgunst und Häme. Dass Hertha seit Jahren den wahrscheinlich besten Nachwuchskader Deutschlands sein Eigen nennt und dieser Nachwuchs regelmäßig in Jugendturnieren Pokale gegen Mannschaften wie Ajax Amsterdam oder Real Madrid holt, all dies übersieht jeder gern, der sein Bild einer zusammengekauften Zufallstruppe nicht revidieren möchte. Kaufte der Verein 15 Millionen teure Brasilianer, deren auffälligste Aktion das Tragen einer weißen Federboa wurde, schimpfte man über die Verschwendung des schnöden Mammons. Als die „Wedding Boys“ – Malik Fathi, die Boateng-Brüder, Patrick Ebert und Ashkan Dejagah – die Mannschaft und ihre Außendarstellung übernahmen, schimpfte jedermann über ihr rüdes Verhalten, ihre Partyexzesse und ihre Gehaltsforderungen. Niemand wollte sich damit beschäftigen dass hier etwas gelungen war, das jedes durch EU-Millionen finanzierte Integrationsprojekt in den Schatten stellt. Es war ein Team, das zu Berlin passte: talentiert, doch undiszipliniert, in seinen Leistungen stark schwankend und das Maul immer ein wenig zu weit aufgerissen.

Das war mein Erlebnis

Die Berliner blieben trotzdem meist zu Hause. Selten verirrten sich mehr als 30.000 Fans ins Stadion, und wenn man es mal richtig ruhig haben, die Einsamkeit in vollen Zügen genießen wollte – dann ging man einfach zu einem der wenigen Uefa-Cup-Spiele. Doch selbst bei halbverwaisten Rängen, schalem Bier und kalten Bratwürsten trieb es mich immer wieder ins große Rund. Es war mein Erlebnis. Ich kannte niemanden, der bereit war, sich als Hertha-Fan zu outen, und diese Außenseitermentalität war genau das, was ich suchte. Ich hatte etwas gefunden, was niemand aus meiner intellektuellen Familie verstand. Nicht weil Fußball proletarisch ist, sondern weil vor mir einfach niemand bereit war, sich die Freude am Spiel zu erarbeiten. Es gibt keinen Unterschied zwischen den ersten Fußballspielen und einem komplexen Buch. Genauso, wie man sich oft über die ersten 50 Seiten einer Lektüre quälen muss, bevor die Handlung einen fesselt, dauert es seine Zeit, bis man ehrlich mitfiebert, Stärken und Schwächen der einzelnen Spieler kennt, Ursachen und Wirkung kleiner Gesten versteht und dem 2. Platzwart schließlich zum Hochzeitstag gratuliert.

Friedrich und Šimunić

Als „aufgeregt lethargisch“ beschrieb ich meinen Verein damals gerne. Und wenn ich bei Schneetreiben einer 0:4-Niederlage gegen den FSV Mainz 05 beiwohnen musste, so war das eben so und sollte nur eine der vielen Prüfungen sein, die ich ertragen musste: Meine Ersatzreligion war eine unterdrückte, und Außenseiter fühlen sich immer im Recht. Die ungezählten Umbauten in der Mannschaft ertrug man irgendwann nur noch, man wollte sich nicht wirklich mit ihnen beschäftigen. Hier ein Brasilianer, dort ein polnisches Nachwuchstalent, doch keiner zündete. Auch die „jungen Wilden“ wurden größtenteils verkauft (inzwischen ist fast jeder von ihnen in seiner neuen Mannschaft zum Leistungsträger mutiert). Und als ein Schweizer Trainer auf der Bildfläche erschien und behauptete, er brauchte etwa vier Jahre, um ein Team zu formen, das konkurrenzfähig wäre, da hieß es: „Sympathisch, aber ohne Chance!“ Favre galt als nächster Fehltritt in einer unendlichen Fehlerkette, zumal er etliche Spieler aus der fußballerisch drittklassigen Schweiz ins Team holte. Dass Favre die Truppe nach vorn gebracht hat, ist keine Frage. Doch haben „seine“ Spieler den Erfolg zu verantworten? Waren Steve van Bergen oder Fabian Lustenberger, der immer wieder schwächelnde Cicero oder der Totalausfall Kaká Grund für die Tabellenführung? Bestimmt nicht. Denn den größten Anteil haben die zwei Dauerbrenner Arne Friedrich und „Joe“ Šimunić (der die Saison seines Lebens spielt), beide seit etlichen Jahren in Berlin, sowie Kurzzeitsöldner Andrej Woronin, der selbst den als unantastbar geltenden Wunderstürmer Marko Pantelic – zumindest in den Medien – vergessen machte.

Mit Fahne und Wimpel

Vieles hat sich geändert. Zumindest für einige Wochen. Freibier gab es, und voll war es auch, doch gegen Schalke 04 verspielte das Team die Meisterschaft. Jetzt müssen die Spieler am nächsten Wochenende gegen Karlsruhe wenigstens die Champions-League-Plätze erreichen. Und der Effekt für den Verein? Die Schalverkäufer freuen sich über die Unmassen von Erstlingsbesuchern. Kinder von Zugezogenen gehen wie selbstverständlich mit Fahne und Wimpel ins Stadion. Für den leidenschaftlichen Anhänger sind diese Wankelmütigen Luft, aber wenn sie Spieltag für Spieltag die Ränge füllen und Geld in die Kassen des dauerklammen Clubs spülen, ist es dann fair, sie zu vergraulen, nur weil sie ihr Fähnchen in den Wind hängen? Ganz bestimmt nicht! Auch um das – teilweise vermisste – Profil mache ich mir weniger Sorgen als früher: Vor Kurzem wurden Patrick Ebert und der inzwischen zu Dortmund gewechselte Kevin-Prince Boateng festgenommen – weil sie nach einer nächtlichen Sauftour angeblich die Außenspiegel von mehreren Luxusautos abgetreten und deren Lack zerkratzt hatten.