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Archiv-Artikel

Ein echte Mega-Aufgabe

Marx ist tot! Und dennoch ist es eine Riesenehre für den Bremer Historiker Till Schelz-Brandenburg, dass er jetzt zwei Bände der Marx-Engels-Gesamtausgabe edieren darf

von kai Schöneberg

Heute wäre der Trierer mit dem Rauschebart vielleicht verhungert. Band 1 des „Kapital“ lag wie Blei in den Regalen: Erst nach fünf Jahren war die erste Auflage mit 1.000 Exemplaren verkauft. Heute ist es noch schlimmer: Das Gespenst, das derzeit in Europa umgeht, heißt Globalisierung, nicht Kommunismus. Und dennoch versuchen sich seit Jahrzehnten zahllose Wissenschaftler in Deutschland, Italien, Russland oder Japan darin, die Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels wissenschaftlich zu bearbeiten – und so der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei geht es nicht um irgendwelche dicken Wälzer, der Name des größten Editionsprojektes der Welt ist Programm: MEGA heißt es, kurz für Marx-Engels-Gesamtausgabe. 123 Bände, insgesamt 200 Bücher sind geplant, davon ist erst die Hälfte fertig. Und: Es ist eine ziemliche Ehre, von der Internationalen Marx-Engels-Stiftung mit der Edition der Briefwechsel von Friedrich Engels (1820-1895) beauftragt zu werden.

Nein, nicht alle Briefe: Weil die beiden Theoretiker insgesamt 15.000 Briefe verfasst und erhalten haben, kümmert sich Till Schelz-Brandenburg, der Leiter des Zentralen Archivs der Uni Bremen, nur um jene aus den Jahren 1893 bis 1895. Dafür sind zwei Bände mit insgesamt vier Büchern geplant. Engels an den Gründer der SPÖ, Victor Adler, Engels an Marxens Schwiegersohn, den französischen Revolutionär Paul Lafargue.

Aber der Mentor des europäischen Klassenkampfes beschäftigte sich nicht nur mit dialektischem Materialismus. So fragt Engels in Madrid nach, wie es mit den Tantiemen für die spanische Übersetzung des „Kapital“ stehe, dessen Herausgabe er nach Marx Tod betreut.Auch sind Billets an August Bebel erhalten, in denen es um Engels Hausdame geht, in die der Vorsitzende der deutschen Sozialdemokratie hoffnungslos verknallt war.

Eine echte Mega-Aufgabe. „Bis zu meiner Pensionierung in gut zehn Jahren könnte alles fertig sein“, sagt Schelz-Brandenburg. Und, dass es der Bremer Uni im gerade begonnenen Jahr der Wissenschaften gar nicht schlecht stehe, auch mal wieder bei den Geisteswissenschaften zu punkten. Immerhin war die Alma Mater einst als sozialistisch verschrien, Schelz-Brandenburgs Lehrer Hans-Josef Steinberg saß auf dem ersten Lehrstuhl für die Geschichte der Arbeiterbewegung.

Eigentlich ist Helmut Kohl an allem schuld. Ausgerechnet der stramm konservative Alt-Kanzler setzte sich dafür ein, dass die unter KpdSU und KPD in den Siebzigern begonnene Gesamtausgabe in den 90ern fortgesetzt wurde. Der erste MEGA-Anlauf war bereits in den 30er Jahren in Russland grausam eingestampft worden: Stalins Schergen töteten damals den Leiter der Mega I, David Borisovic Rjazanov. „Die Historisierung – und damit die vernünftige Beschäftigung mit den beiden – hat ja gerade erst angefangen“, sagt Schelz-Brandenburg. Im zuerst nationalsozialistisch, dann geteilten Deutschland hatten die Gedankengebäude von Marx und Engels jahrzehntelang unter ideologischen Grabenkämpfen gelitten. So gesehen spiegeln Beginn, Scheitern und Wiederauferstehen der MEGA die geschichtliche Tragödie des 20. Jahrhunderts.

Klaus-Rainer Rupp erinnert sich: „Marx und Engels sind auch heute noch hochwichtig“, sagt der Chef der Bremer PDS. „Sie erbrachten den Nachweis, dass das kapitalistische System einfach nicht funktionieren kann.“ Allerdings müsse man auch „differenzieren“. Und zwar „zwischen meiner Meinung und der Richtung, in die die Debatte gerade läuft“.