: Menschenrechte: Heines-Klinik im Visier
Erstmals hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde angenommen, die die Zustände in der deutschen Psychiatrie in den 70ern anprangert. Beschwerdeführerin ist Vera Stein, einst Patientin in der Klinik Dr. Heines
Bremen taz ■ Die Klinik Dr. Heines ist Gegenstand eines Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. „Vera Stein gegen Deutschland“ heißt die Beschwerde, die jetzt in Straßburg zugelassen wurde. Damit ist die letzte Station eines Marsches durch die Instanzen erreicht, den Vera Stein 1997 begonnen hatte. Und es ist der erste Fall dieser Art, der vom Europäischen Gerichtshof zugelassen wurde.
Vera Stein war Patientin in der Klinik Dr. Heines – gegen ihren Willen. Das war zwischen 1977 und 1979. Ihr Vater hat die damals 19-Jährige nach Bremen verfrachtet, weil sie ihm zu aufmüpfig ist. Mit der Diagnose „Hebephrenie“, das heißt: jugendliche Schizophrenie, wird die junge Frau in Bremen mit Medikamenten ruhiggestellt, sie wird an die Heizung gefesselt, wenn sie tobt, und als sie einmal aus der Klinik flieht, wird sie von der Polizei in Handschellen zurückgebracht.
Das alles geschieht gegen den Willen der erwachsenen Frau. Die Klinik hat zu keiner Zeit eine Einwilligung von Vera Stein. Vera Stein ist nicht entmündigt, eine richterliche Anordnung zur Unterbringung in der Psychiatrie gibt es nicht.
Vera Stein ist nicht der richtige Name der inzwischen 46-jährigen Frau, die heute zu 100 Prozent behindert ist und unter starken Schmerzen leidet. Unter dem Pseudonym hat sie zwei Bücher geschrieben und ihren Fall mehrfach in die Öffentlichkeit gebracht.
Die Klinik Dr. Heines ist nicht die einzige und auch nicht die erste Station ihrer „Odyssee“, wie Stein ihre vielen Aufenthalte in Kliniken nennt. Als ihr Vater sie von ihrem Heimatort in Hessen ins weit entfernte Bremen bringt und dort einsperren lässt, wird fortgesetzt, was Jahre zuvor in der Universitätsklinik Frankfurt am Main begonnen wurde: Vera Stein bekommt Neuroleptika und Tranquilizer, die sie nie hätte bekommen dürfen. Denn als Kind war sie an Kinderlähmung (Poliomyelitis) erkrankt – die später in den Kliniken teilweise unter Zwang verabreichten Medikamente führen zu schweren neurologischen Symptomen, dem „Post-Poliomyelitis-Syndrom“.
Jahre später geht Vera Stein vor Gericht, nicht nur in Bremen. Auslöser, gegen das ihr widerfahrene Unrecht juristisch vorzugehen, ist ein Gutachten des renommiertesten damaligen Kinder- und Jugendpsychiaters, Reinhard Lempp, der ihr bescheinigt, „dass zu keinem Zeitpunkt eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vorlag“ und dass ihr ungebärdiges Verhalten einzig aus den Konflikten innerhalb ihrer Familie resultierte.
In der ersten Instanz in Bremen bekommt Vera Stein Recht, aber die Klinik Dr. Heines geht in die Berufung. Das Oberlandesgericht kippt das Urteil und folgt dabei einem Münsteraner Gutachter, der erklärt hatte, dass die hier verabreichten Medikamente bei Polio nicht hätten gegeben werden dürfen, sei damals noch nicht bekannt gewesen. Und was den Zwang angeht: Psychiatrie in den 70ern „war halt so“ (taz berichtete).
Vera Stein gibt nicht auf, auch in keinem der anderen Verfahren, die sie gegen die diversen Kliniken angestrengt hat. Einzig in Frankfurt erringt sie einen kleinen Erfolg: In einem Vergleich wird ihr Schmerzensgeld bezahlt, nachdem das Gericht einen groben Diagnosefehler für möglich gehalten hatte. In den anderen Fällen, einschließlich Bremen, geht Stein bis zum Bundesgerichtshof und zum Bundesverfassungsgericht. Beide lehnen es ab, die verschiedenen Verfahren noch einmal aufzurollen. Diese Ablehnung, sprich: die Ausschöpfung aller Instanzen im Heimatland, ist Voraussetzung für eine Beschwerde in Straßburg.
Der Bielefelder Anwalt Georg Rixe hat für Vera Stein verschiedene Artikel der 1950 abgeschlossenen Europäischen Menschenrechtskonvention geltend gemacht, so das Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5), das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6) sowie das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8). In seiner Begründung für die Annahme der Beschwerde bezeichnet der Gerichtshof Steins Argumente für „offensichtlich nicht unbegründet“ – gibt ihrer Klage also durchaus Chancen.
Die Bundesregierung als Beschwerdegegnerin hingegen argumentiert, gerade weil es keine richterliche Anordnung für Steins Aufenthalt bei Heines gegeben habe und weil die Klinik privat geführt wird, seien staatliche Stellen für diese Odyssee-Station nicht verantwortlich zu machen. Vera Stein hält dagegen und verweist auf ihre gesetzliche Krankenversicherung, des weiteren auf die Polizei, die sie nach ihrem Fluchtversuch gefesselt in die Klinik zurückgebracht hatte – alles Anknüpfungspunkte, in denen der Staat in ihr Schicksal verwickelt gewesen sei.
Ein Urteil soll in diesem Jahr gefällt werden, heißt es am Europäischen Gerichtshof in Straßburg, möglichst noch vor dem Sommer. Susanne Gieffers