Eingehüllt im Staub der Vorfahren

Viele feine Risse im Fundament, viel Menschheitsdämmerungspathos und auch ein wenig Kitsch: In Patrick Roths neuem Buch „Starlite Terrace“ reden sich die hilfsbedürftigen Bewohner eines Apartmenthauses um Leib und Leben

Eine Mischung aus Hollywood und Heilsgeschehen, aus Poolpartys und Sintflut

Rex heißt der Mann, und er behauptet allen Ernstes, sein Vater habe in dem Filmklassiker „High Noon“ bei den schnellen Schusswechseln Gary Coopers Hände gedoubelt. Die Zuhörer in Noah’s Deli in Los Angeles, darunter auch der Ich-Erzähler, bezweifeln das. Er habe den Vater doch nie kennen gelernt. Und überhaupt, eine solche schnelle Schusswechselszene gebe es gar nicht in „High Noon“. Sie verstehen nicht, dass Rex eigentlich von etwas anderem spricht. Von seinem kindlichen Versuch, die Ferne des Vaters irgendwie erträglich zu machen, von seiner Verlassenheit und der Einsamkeit angesichts des Todes.

Erst als er Wochen später hört, dass Rex in einer Klinik qualvoll gestorben ist, erhellt sich dem Ich-Erzähler der Zusammenhang: „Ich sah Gary Cooper, den einsamen Cooper in ‚Zwölf Uhr mittags‘, wie ihm niemand hilft, wie er anklopft, um Hilfe bittet und keine bekommt. Und jetzt schlägt es zwölf, das Lied beginnt. Er muss die Straße hinab. Allein.“ Aber es ist zu spät, um Rex zu begleiten.

Es sind traurige, ganz alltägliche Geschichten, die der Ich-Erzähler aus Patrick Roths neuem Buch von seinen Mitbewohnern in dem alten Apartmenthaus „Starlite Terrace“ zu hören bekommt: von zerstörten Familien, einsamen Herzen und gescheiterten Existenzen, die sich um Leib und Leben reden und deren Hilferuf doch meist ungehört verhallt. Da ist etwa der ehemals erfolgreiche New Yorker Filmagent Mosse McCloud, den es auf der Suche nach seiner Tochter in den Westen verschlagen hat. Aus Angst vor einer Neuauflage des Holocaust versteckt er sich in einer kleinen Kammer hinter seinem Schrank. Dort schreibt er für die Tochter, die als Dreijährige von der Mutter entführt wurde, seine eigene Version der Trennungsgeschichte auf. Ein zufälliger Blick auf sein Spiegelbild in einem Schaufenster, „zielstrebig, sinatramäßig, die Hand in der Hosentasche“, bewahrte ihn damals im letzten Augenblick vor einem grausamen Racheakt an seiner Frau. Im Rückblick erkennt er in der verfremdeten Spiegelung seiner selbst ein Abbild Gottes, „bereit, seine Schale Zorn auszugießen“.

Patrick Roths Erzählungen ruhen fest auf dem Boden der Realität, oder dem, was wir für Realität halten. Doch plötzlich werden im Fundament feine Risse sichtbar. Auf suggestive Weise verwebt Roth Träume, dunkle Vorahnungen und archaische Geschichten mit der so sicher geglaubten Wirklichkeit. Ein Lichtstrahl, eine Wolkenformation, ein sintflutartiger Regen werden zu Zeichen einer höheren Gewalt, die plötzlich in den Alltag einbricht.

Empfänglich für Menschheitsdämmerungspathos und frohe Botschaften muss man schon sein, um die vier Storys wirklich zu goutieren. Aber der verschachtelte Aufbau dieser Short Cuts, ihre raffinierte Verknüpfung miteinander wie auch die filmreifen Dialoge und schnellen Schnitte zeugen von dem beeindruckenden handwerklichen Können des seit vielen Jahren in Los Angeles lebenden Autors. Seine schon in früheren Büchern erprobte Mischung aus Realismus und Mystik, Hollywood und Heilsgeschehen, Poolpartys und Sintflut entfaltet auch hier ihre Wirkung.

Manchmal allerdings steigt einem der Weihrauch allzu sehr in die Nase. Vor allem die letzte Geschichte von June, der Exsekretärin in Hollywood, die von ihrem Mann einst mit einem jungen Starlet namens Marilyn Monroe betrogen wurde und nun ihren siebenundsiebzigsten Geburtstag wie ein Starlet am Pool mit Champagner feiert, schrammt hart am Kitsch vorbei.

Durch das Bad in der schmerzhaften Erinnerung wird June gereinigt, und wie neu geboren taucht sie aus dem Wasser auf, in das sie zuvor die Asche ihres Großvater gestreut hat. „Mir war im selben Moment, als stünde ich mit ihr dort unten, sähe mich umtrieben vom All, in Gänze eingehüllt, im Staub des Vorfahrs wartend-stehend-schwebend“, raunt salbungsvoll der Erzähler. In solchen Augenblicken sehnt man sich nach der Wortkargheit eines Gary Cooper. MARION LÜHE

Patrick Roth: „Starlite Terrace“. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main 2004, 165 Seiten, 16,80 Euro