: Eine haarige Sache
Petra Kalkstein versteht sich auf die Kunst des Perückenmachens. Das ist eine heikle Angelegenheit. Denn Menschen fühlen sich nackt ohne Haar – und alt. Dass für eine gute Perücke Haar nicht gleich Haar ist, lernt man in ihrer Kreuzberger Manufaktur
VON HANS KORFMANN
Mit dem „Lockenstübchen“ hat Frau Kalkstein nichts zu tun. Dort sitzen einige ältere Damen vor den Spiegeln, während andere ältere Damen ihnen plaudernd die noch beträchtliche Haaresfülle in eine betont locker-lockige Form zu bringen versuchen. „Nein, die ist eine Tür weiter, da müssen sie klingeln!“, sagt die blondierte Friseuse zu jenem Mittfünfziger, der inmitten des Damenkränzchen verunsichert und etwas schüchtern nach der „Haarmanufaktur“ fragt. Nebenan sind die Jalousien heruntergelassen. Vielleicht möchte hier nicht jeder gleich gesehen werden. Denn hier geht es um den Kopfschmuck jener, die schon einige Haare gelassen haben. Manchmal sogar alle.
Frau Kalkstein versteht sich auf die Kunst des Perückenknüpfens. Und das ist eine heikle Angelegenheit. Wenn es nicht so aussehen soll wie die schwarzen, schlecht sitzenden Toupets längst ergrauter Herren, die glauben, mit dem einmaligen Kauf eines Haarersatzteils sei das Problem bis in alle Ewigkeit erledigt. Als handele es sich um die Dritten oder eine Beinprothese. Deshalb hat Frau Kalkstein auch mit Toupets nicht viel am Hut. Die kommen in der Regel von der Stange und sind meistens aus Kunsthaar. Frauenfrisuren sind ihr lieber. Frauen haben eben einen kritischeren Blick – im Spiegel jedenfalls. Und Frauen verstehen etwas von Haaren.
Besonders Frau Kalkstein. In den Neunzigerjahren hat sie tonnenweise Haar gekauft. In China. China ist der größte Echthaarproduzent der Welt. Das liegt nicht nur an der zahlenmäßigen Übermacht von über einer Milliarde Chinesen, sondern daran, dass ihre Haare besonders dick sind. Beinahe so stark und spröde wie das Büffelhaar, das neben dem Kunstfaserhaar die einzige Alternative der Perückenfabrikanten zum Echthaar ist.
Im Grunde ist das Haar der Chinesen in Europa gar nicht zu gebrauchen. Aber die Chinesen spalten es, bleichen es und färben es anschließend wieder schwarz, braun, rotbraun oder blond. Von Echthaar kann da kaum mehr die Rede sein. Ähnlich verhält es sich auch mit dem indischen Haar, das schon etwas feiner ist, aber immer noch zu spröde für den feinsinnigen Kopf der Europäer. „Also zuerst kommt das chinesische, dann das indische, und dann kommt das schöne Haar.“
Das ist vollkommen naturbelassen. Wie frisch vom Kopf, wie vom Frisör nebenan. Und sie hat ein Lager, da ist für jeden Kopf das Richtige dabei. Allerdings gibt Frau Kalkstein nicht jedes Haar her. Es gibt da einige seidige, glänzende, geschmeidige Zöpfe, „die würde ich niemals verkaufen! Ich liebe Haare!“ Frau Kalkstein greift ein Haarteil von einem Puppenkopf und lässt es durch die Hände gleiten. Es schimmert und glänzt. „Das ist Brillanz, das bewegt sich, das fließt, das lebt!“ Und diese wunderbaren Eigenschaften können asiatische Haare eben leider nur begrenzt vorweisen. Frau Kalkstein steht auf „Eurohaar“.
Wenn die Perückenmacherin eine Perücke fertigt, dann verwendet sie ausschließlich echtes Eurohaar. Selbst bei ihren kunstvoll gearbeiteten Haarteilen – und sogar dann, wenn ihr mal ein Toupet unterkommen sollte – greift sie nie zu minderwertigem Material. Man kann noch so gut arbeiten, noch so fein nähen und noch so schön knüpfen: Die Frisur steht und fällt mit dem Haar. „Schließlich wäre es schade um die viele Arbeit, die das Knüpfen einer Perücke macht, wenn man am Ende am Material sparen würde.“ Das möchte Frau Kalkstein weder ihren Kunden noch sich selbst antun.
Denn irgendwie macht sie so eine Perücke nicht nur für ihre Kunden. Sie macht sie aus Leidenschaft. Aus Überzeugung. Perückenknüpfen ist ein Kunsthandwerk. Das hat nichts mit Lockenwickeln zu tun. Petra Kalkstein hat es sogar ins Guinnessbuch der Rekorde geschafft – einzige Frau in einer von Männern dominierten Welt der Perückenhersteller.
Doch nicht alles, was in der Haarmanufaktur in der Wilmsstraße verkauft wird, ist aus echtem Eurohaar und kostet gleich 1.500 Euro. Es kommen Mädchen, die möchten mal einen Sommer lang einen Zopf tragen. Dann tut es auch das chinesische Haar. Oder eben Büffel- und Kunsthaar. Oder es kommt ein Transvestit, der eine neue Frisur für seinen Auftritt braucht. Schließlich ist die Haarmanufaktur in Kreuzberg. Die Perücken für die englischen Abba-Doubles aber, die am Schillertheater gastierten, mussten aus Echthaar sein. Aus Eurohaar. Chinesenhaar hätte schlecht auf den Kopf der blonden Skandinavierinnen gepasst.
Aber meistens geht es den Kundinnen und Kunden der Frau Kalkstein nicht um Mode und Showbusiness. Meistens geht es um die Substanz. Es fehlt ihnen schlichtweg an Haaren, sie fühlen sich nackt und alt. „Dabei trifft es heute auch zunehmend jüngere Leute“, sagt Petra Kalkstein. Dann braucht die Perückenknüpferin Feingefühl, nicht nur beim Knüpfen, sondern auch im Gespräch. Meistens versucht sie, ähnlich wie der Zahnarzt mit seinen Brücken, das Problem des schütteren Haares mit Haarteilen zu lösen. Eineinhalb Stunden Beratung sind die Regel.
Anders als beim Frisör nebenan ist das manchmal auch eine traurige Angelegenheit. Vor allem bei den Frauen, die aus dem Urbankrankenhaus herüberkommen. Auch denen verkauft Petra Kalkstein nur selten Echthaarperücken, sondern ihre „Chemoperücken“. Denn das Leben soll ja weitergehen, die Haare sollen ja wieder nachwachsen nach der Chemotherapie. Drei von zehn Kunden kommen aus dem Krankenhaus, und die meisten von ihnen haben Brustkrebs. Die Gespräche im „Lockenstübchen“ sind andere. „Das geht hier manchmal richtig zur Sache!“
Für all jene, die nur vorübergehend eine scheinbar natürliche Kopfbedeckung brauchen, hat die Manufaktur Stangenware im Sortiment. Hübsche Frisuren in allen Farben, verteilt auf ebenso hübsche, blauäugige und dezent geschminkte Frauenköpfe aus Kunststoff, die Frau Kalkstein auf einer Messe in Frankfurt aufgefallen waren. Sie hat gleich Dutzende von ihnen gekauft. Dreißig blicken jetzt aus dem Regal auf die Besucher herab, und obwohl jeder Puppenkopf wie ein Ei dem anderen gleicht, erinnert die eine an Madonna und die andere an Doris Day. Das ist die Macht der Haarpracht.
Frau Kalkstein kann sich nicht entscheiden, welche der dreißig Styroporfrauen ihr eigentlich am besten gefällt. Eigentlich gefallen ihr ja alle. Sie liebt diese Puppenköpfe. Sie hat den Puppenköpfen etwas zu verdanken. Denn mit ihnen hatte alles einmal begonnen: Als die Diplombetriebswirtin nebenbei im Antiquitätenhandel arbeitete und Puppen zu sammeln begann. 1989 stieg sie mit der Produktion von Puppenperücken ins Geschäft ein, schon zwei Jahre später stellte sie in einem aufwändigen Farbkatalog ihre erste Kollektion aus. Das Geschäft mit den Puppen boomte.
Noch heute knüpft sie manchmal für einige der berühmtesten Puppenbauer ihre kleinen Perücken. Aber das ist schon wieder eine ganz andere Geschichte.