Die Politik des Verschwindens
PHYSIK UND BEWUSSTSEIN Als Ettore Majorana im Alter von 32 verschwand, galt er als einer der wichtigsten Physiker seiner Zeit. Der Künstler Marco Poloni hat Majorana bei Campagne Première eine Installation gewidmet
Ganz direkt wird der Betrachterin das gespaltene Bewusstsein des Mannes, seine Zerrissenheit, vorgeführt
VON MAIK SCHLÜTER
„The Majorana Experiment“ nennt der Schweizer Künstler Marco Poloni seine aktuelle Ausstellung in der Galerie Campagne Première in der Chausseestraße. Der Titel bezieht sich auf den 1938 unter mysteriösen Umständen verschwundenen italienischen Physiker Ettore Majorana. Als Majorana im Alter von 32 Jahren verschwand, galt er, der zusammen mit Enrico Fermi und Werner Heisenberg die Grundlagen der Kernphysik und Quantenmechanik erarbeitet hatte, als einer der wichtigsten Physiker seiner Zeit.
Weniger positivistisch
Auf einer Schiffspassage von Palermo nach Napoli verliert sich die Spur des talentierten Wissenschaftlers. Sein Leichnam wurde nie gefunden, sodass sich über lange Zeit das Gerücht hielt, Majorana würde noch leben. In den 1960er-Jahren gab es Aussagen verschiedener Zeugen, die den Mann in Argentinien gesehen haben wollten. 1975 schließlich schrieb Leonardo Sciascias die Novelle „Das Verschwinden des Ettore Majorana“ und nährte damit Spekulationen über Majoranas Gründe, sein bisheriges Leben aufzugeben: Vielleicht sah er die fatalen Möglichkeiten der Kernphysik hinsichtlich der Konstruktion einer Atombombe voraus und war weniger gnadenlos positivistisch gestimmt als viele seiner Kollegen, die sich mit jedem Regime einigen konnten, solange ihre Forschung ausreichend protegiert wurde.
Majorana war Skeptiker und ein Einzelgänger, der schon seit 1933 immer weniger publizierte und sich allmählich zurückzog. Depressionen, zersetzender Zweifel, Rückzug und Einsamkeit sind die Symptome seines emotionalen und intellektuellen Niedergangs. Der Künstler Marco Poloni nimmt das biografische Material als Ausgangspunkt für seine überzeugende Installation. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen zwei Filme, die unterschiedlicher nicht sein könnten: „Majorana Eigenstates“ und „The Sea Rejected Me“ (beide 2008). Der erste Film dauert 46 Minuten und besteht aus einer suggestiven Kamerafahrt durch eine aufwendig gebaute Kulisse. Der zweite Film ist nur vier Minuten lang, ein zerkratztes Filmdokument auf 16 mm. In beiden Filmen wird über die letzten Stunden und über die Möglichkeit spekuliert, der Physiker könnte inkognito weitergelebt haben. In „Majorana Eigenstates“ ist ein Schauspieler in einem Hotelzimmer und einer Schiffskajüte zu sehen. Die Räume sind durch einen Rundgang miteinander verbunden, die Interieurs ähneln einander. Der Mann im Film ist allein, er raucht, geht im Raum auf und ab, spielt Schach. Unruhe und Zweifel bestimmen seine Situation.
Plötzlich zweimal
Poloni ließ mit zwei Kameras filmen und erzeugte so einen „Parallax Gap“, also eine Lücke, in der durch eine Veränderung der Beobachterposition der Standort eines Objekts fragwürdig wird. Wir sehen immer zwei Bilder, die einen Ausschnitt der Szene verdoppeln. Wie verschoben wirkt dadurch die Wahrnehmung. Verstärkt durch die präzise Kameraarbeit und die wechselnden Interieurs, in denen der verdoppelte Majorana verloren wirkt, verliert man ein adäquates Raum- und Zeitgefühl. Das Doppelbild suggeriert auch eine zweifache Bedeutung: Wie bei Annahmen der experimentellen Physik scheint sich die Materie zu vervielfältigen, es kommen bestimmte Teilchenkonstellationen plötzlich zweimal vor, bewegen sich außerhalb des Zeitkontinuums und können so an zwei Orten zugleich sein. Ganz direkt wird der Betrachterin das gespaltene Bewusstsein des Mannes, seine innere Zerrissenheit, vorgeführt. Der Film erzeugt eine klaustrophobische und meditative Stimmung von großer Sogkraft.
Wird in diesem Film Majorana überexponiert, taucht er in „The Sea Rejected Me“ kaum auf und verschwindet am Ende in den Abstraktionen des zerstörten Zelluloids, dessen Bild der Projektor an die Wand wirft. Obwohl das Filmmaterial „authentisch“ ist – diesen Filmrest hat Poloni bei einem Kinoausstatter in Teheran gefunden –, bleibt doch alles spekulativ: Der Mann im Film könnte Majorana sein, ist ebenfalls auf einem Boot und spielt wie der echte Ettore Schach. Wahrheit und Fiktion berühren sich, die Fakten muss man selber zu einer Geschichte zusammenbauen. Auch die Forschung im Reich der Kernphysik hat spekulative Züge, versuchen die Forscher doch ständig, nicht Sichtbares sichtbar zu machen, unbekannte Prozesse zu verstehen und deren Energien zu nutzen.
Wie Abgründe entstehen
Wie aus den abstrakten Versuchsanordnungen der Forschung konkrete Gefahren werden können, zeigt der dritte Teil der Ausstellung, „Persian Gulf Incubator“. Hier bringt der Künstler schließlich alle Elemente seiner visuellen Rhetorik zusammen. Die Mischung aus historischen Bildern, wissenschaftlichen Makroaufnahmen und ortsbezogenen Dokufotos verdichtet sich in der engen Kabinettsituation der Ausstellung zu einer erstaunlichen Analogie über Bilder, Politik und Zeitgeschichte. Marco Poloni spricht von der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Welt. Und davon, dass zwischen Fakten und Vermutungen manchmal Abgründe entstehen, die weder Individuen noch Gesellschaften überbrücken können.
■ Noch bis zum 20. Juni bei Campagne Première, Chausseestraße 116, Mitte. Di.–Fr., 14–18 Uhr, und Sa., 10–20 Uhr