: Die Kälte ist verdampft
„Moskauer Eis“ von Annett Gröschner erzählt vom langen Warten auf die Zukunft: Die hat auch im Gorki Theater, wo eine Theaterfassung des Romans jetzt inszeniert wird, noch nicht richtig begonnen
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
Kältetechnik: Sie ist physikalischer Fakt und Metapher zugleich in Annett Gröschners vor vier Jahren erschienenem Roman „Moskauer Eis“. Die Dingwelt und die Sachzwänge bilden die harten und unnachgiebigen Kanten, an denen die Ideale und Träume sich wund stoßen. Aus dem Sachbestand des Lebens in der DDR schält sie die Konturen, die den Bewegungsspielraum des Einzelnen begrenzen. Vom Material und seinen unzureichenden Qualitäten an erster Stelle zu reden bedeutet aber nicht nur, zu den Figuren in Distanz zu rücken, sondern sie auch dahinter zu schützen: Diese Sichtweise nimmt ihrem Scheitern das Pathos und den Schmerz des Tragischen. Sich an den Gegenstand zu halten und über Physik zu streiten: Damit rettet die Erzählerin sich und die Familie, deren Geschichte sie nach und nach ins Spiel bringt, vor dem Sentimentalen. Lieber über Temperaturen als über Gefühle streiten.
Im Mittelpunkt steht ein Kälteforscher, Klaus Kobe, der eines Tages nach der Wende sich selbst auf Eis legt. So, wie er sein Leben lang Träume vom Erfolg und der Machbarkeit des Fortschritts auf Eis legen musste. Die fehlenden Minusgrade, die er unermüdlich mit seinem Thermometer in jeder Kühltruhe und jedem Kühlschrank misst, privat und in Betrieben, liefern ihm ein fortgesetztes Protokoll der Unzulänglichkeit: Das beginnt in der eigenen Familie und reicht bis in die Staatsführung. Seine Tochter Annja erzählt seine Geschichte und die der Großeltern. Die Unaufgeregtheit und Sachlichkeit ihres Tons besticht dabei auch durch ein großes Maß an Understatement, aus dem die Erzählerin nicht zuletzt ihren Witz bezieht.
Doch vor allem ist der Roman von Annett Gröschner geprägt von ihrer Lust an der Recherche und der Genauigkeit im Detail. Man könnte ihre dokumentierende Arbeitsweise gut mit dem Theater der Gruppe Rimini-Protokoll vergleichen, die Zeugen des Alltags mit trockenen Berichten auf den Bühne einladen und damit zu einem eigenen Stil und lakonischen Formen der Beobachtung gefunden haben.
Gröschners Arbeitsweise lässt sich auch gut mit dem Vorgehen bildender Künstler in Beziehung setzen, die Technik- und Designprodukte der DDR im Kontext der Kunst recyceln und den Widerspruch zwischen utopischen Anspruch und den Fesseln der Realität zur Erzählung ihrer Fundstücke machen. So war das Vorhaben, Annett Gröschners Roman „Moskauer Eis“ auf die Bühne zu bringen, viel versprechend, geht es doch nicht nur um Familiengeschichte, sondern auch um eine besondere Erzählperspektive.
Doch in der Umsetzung im Gorki Studio in der Regie von Sascha Bunge, Gast am Gorki Theater und demnächst Hausregisseur am Kinder- und Jugend-Theater carrousel, verliert sich dieser besondere Blickwinkel zu oft und übrig bleibt eine hausbacken gespielte und brav erzählte Familiengeschichte. Plötzlich schrumpft wieder zum Klischee zusammen, was als Text gerade funktionierte, weil es die Ausweichmanöver vor dem Erwartbaren mitbeschrieb. Geschichten von Republikflucht, zwischen Eisblöcken selbstverständlich, oder von Anwerbungsversuchen der Erzählerin durch die Staatssicherheit klingen hier nur wie eine Wiederholung bekannter Muster. Die Schauspieler sind den Doppelbödigkeiten der Erzähltechnik nicht ganz gewachsen. Die Stückfassung, die Annett Gröschner und Ralf Fiedler geschrieben haben, rafft zwar die Erzählzeit und baut eine Struktur, die sich vom Roman löst: Was zuerst als Rückblick geschrieben war, hat jetzt oft die Form eines Gesprächs mit den Toten, die sich rechtfertigen. Aber die Inszenierung klebt am Text ohne jeden spielerischen Mut. Zu zaghaft geht sie mit der Vorlage um, macht von dokumentierenden Mitteln gar keinen Gebrauch.
Die Inszenierung frisst sich in der Familiengeschichte fest und findet dort, wo der Roman von dieser Zelle aus immer wieder das Ganze eines Landes erahnen lässt, keine eigenen Bilder. Vater, Großmutter und selbst Annja: Sie sind böser, wütender, pedantischer und verbissener gezeichnet, als man die Figuren vom Lesen in Erinnerung hat. So sind sie ein wenig an die Karikatur verraten.
Mit „Moskauer Eis“ startet im kleinen Studio des Gorki Theaters die Reihe „Glaube II: … und der Zukunft zugewandt. 40 Veranstaltungen zu 40 Jahren DDR“; sie startet also dann doch vor allem stilistisch etwas rückwärts gewandt. Das Warten auf die Zukunft, von dem der Roman so grandios erzählt, es hat noch kein Ende genommen in diesen Heimspiel.
Nächste Vorstellungen von „Moskauer Eis“ am 17. und 24. Januar, Gorki Studio, 20 Uhr