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Archiv-Artikel

Wider Willen in die Psychiatrie

Mehr als 30.000 Menschen werden jährlich in NRW in Psychiatrien zwangseingewiesen – Tendenz steigend. Dabei sind die meisten Einweisungen überflüssig, sagen Patienten und Wissenschaftler

VON MIRIAM BUNJES

Die Tendenz ist ebenso eindeutig wie alarmierend: Immer mehr Kontakte mit der nordrhein-westfälischen Psychiatrie entstehen unfreiwillig. 30.487 Verfahren zur Zwangseinweisung im Jahr 2003 zählt die Landesregierung. Die Zahlen für 2004 sind noch in Arbeit. Klar scheint aber: Zwangseinweisungen werden im Umgang mit psychischen Störungen zur Routine. Noch vor zehn Jahren gab es fast sechstausend erzwungene Einweisungen weniger. „Dabei sind psychische Erkrankungen heute viel besser behandelbar als vor zehn Jahren“, sagt Gesundheitspolitiker Stefan Romberg (FDP). „Eigentlich müsste die Zahl der Zwangseinweisungen zurückgehen.“

Die Antwort, die Romberg – selbst Facharzt in der psychiatrischen Klinik in Hamm – auf eine kleine Anfrage an die Landesregierung erhielt, überrascht vor allem in den Details: In Köln, Dortmund, Düsseldorf oder Bonn wird bis zu zehnmal häufiger zwangseingewiesen als beispielsweise in Höxter, Olpe, Herne oder Herford.

„In Dortmund werden psychisch auffällige Personen von der Polizei ins normale Krankenhaus gebracht. Und die überweisen dann in die psychiatrische Klinik“, sagt Wolf Crefeld, Professor an der evangelischen Fachhochschule in Bochum. „In Bochum hingegen untersucht der sozialpsychiatrische Dienst ambulant oder vor Ort die Betroffene und entscheidet über eine Zwangseinweisung.“

Das Ergebnis: Das Risiko, unfreiwillig in der Psychiatrie zu landen, sei in Dortmund dreimal so hoch wie in Bochum.

Crefelds umfangreiche Untersuchung über die Zwangseinweisungspraxis in den nordrhein-westfälischen Kommunen kam schon vor fünf Jahren zu dem Schluss, dass Zwangseinweisungen landesweit nach unterschiedlichen medizinischen Kriterien und völlig uneinheitlich verschrieben werden. In Kommunen mit einem funktionierenden sozialpsychiatrischem Dienst würde deutlich weniger eingewiesen. „Für ambulante Psychiater ist es ein zu großes finanzielles Risiko, auf Krisensituationen unmittelbar zu reagieren und ihre Patienten stundenlang in den Praxen warten zu lassen“, erklärt Crefeld die Dominanz der Einweisungen durch Klinikärzte. Und für die Krankenhäuser sei es eben finanziell attraktiv, die PatientInnen erstmal stationär zu behandeln.

Auch unfreiwillig. „In der Regel ist so ein Klinikaufenthalt unter Zwang überflüssig und sogar schädlich für die Betroffenen“, sagt Matthias Seibt vom Landesverband Psychiatrie-Erfahrener NRW. „Die wenigsten Menschen mit Psychosen sind für sich und andere gefährlich.“ Deshalb sei ein derartiger Eingriff in die Bürgerrechte der Betroffenen in der Regel nicht gerechtfertigt. Auch die Behandlungsmethoden der Psychiater hält Seibt für schädlich. „Da werden die Menschen so mit Medikamenten vollgepumpt, dass sie keinen eigenen Willen mehr haben.“ An den Ursachen oder Auslösern für Psychosen werde hingegen kaum gearbeitet. „Um so schlimmer, dass viele sich nicht selbst dafür entscheiden, sondern unter Zwang in der Psychiatrie landen.“ Die Zahl der Zwangseinweisungen überrascht Seibt nicht. Im Gegenteil: Eigentlich läge sie noch höher, da akut Erkrankte oft mit der Drohung, sonst eine Zwangseinweisung zu erhalten, eingeschüchtert würden und sich „freiwillig“ einweisen ließen.

Eine Drohung, die in der Regel sehr leicht wahr gemacht werden kann, da viele Betroffene einen gesetzlichen Betreuer hätten. Im Betreuungsrecht steht die Sorge um das Wohl des Betroffenen rechtlich im Mittelpunkt. „Ein sehr rechtlich sehr schwammiger Begriff“, sagt Seibt. „Von den meisten Richtern wird eine Zwangseinweisung deshalb einfach abgenickt.“

Die Daten der Landesregierung unterstreichen diese These des Psychiatrie-Erfahrenen. Fast zwei Drittel aller Zwangseinweisungen erfolgten auf Grundlage des Betreuungsrecht. Der Rest basiert auf dem so genannten Psychisch-Kranken-Gesetz, laut dem Selbst- und Fremdgefährdung eines psychisch Erkrankten nachgewiesen werden muss, bevor der unfreiwillig in der Psychiatrie verschwindet, erklärt Seibt. Und das sei eben deutlich schwerer nachzuweisen.