: Wessis gegen Ossis
Politisch gibt es kein geteilteres Bundesland als Schleswig-Holstein – das werden die Landtagswahlen am 20. Februar erneut belegen: Während die konservativen Vordenker von der Westküste stammen, haben im Osten die SPD-Granden ihre Heimatvon der Westküste Ebbe Volquardsen
Ich weiß nicht mehr, ob es Theodor Storm, Uwe Barschel oder ganz wer anders war, der einmal behauptete, die Westküste sei das Gesicht Schleswig-Holsteins: die nordfriesische Halbinsel Eiderstedt die Nase, die Meldorfer Bucht der erstaunt aufgerissene Mund.
Gut kann ich mich aber noch an den Gedanken erinnern, der mir kam, als ich jene Sentenz zum ersten Mal hörte. Wenn der Westen das Gesicht sein soll, was bitte ist dann die Ostküste?
Fröhlich lacht die Frau mit der friesischen Nase von jeder Flasche Flensburger Pilsener, die man im Laufe des Tages so aufploppt. „Produkt aus Schleswig-Holstein“ steht kaum lesbar darunter. Links auf dem Bild ist die Halbinsel: die Nase – und der Mund: die Bucht. Und rechts? Die Kieler Bucht, die ostholsteinische Halbinsel, die Insel Fehmarn. Leihen wir einen Begriff aus der Ornithologie. Rechts ist der Bürzel von Holstein.
Nun würde sich freilich kein Rendsburger und kein Kieler als Bürzel-Bewohner bezeichnen. Nein, der Ostküstler lebt in der K.E.R.N.-Region – zumindest in seiner Phantasie. Kern ist ein Wort, das Urbanität, Wirtschaftskraft und Wachstum verheißen soll. In diesem Zusammenhang steht es aber lediglich für die Anfangsbuchstaben der vier Geestrücken-Metropolen Kiel, Eckernförde, Rendsburg und Neumünster, allesamt traurige Garnisonsstädte, über die verzweifelte ReiseführerautorInnen kaum mehr zu berichten wissen, als dass sie alle vier eine interessante und für die schleswig-holsteinische Ostküste so typische Backsteinarchitektur aufweisen. Wachstum können sich diese öden Flecken nur auf die Fahne schreiben, weil sie seit Jahren verlässlich dafür sorgen, dass sich die schleswig-holsteinischen Arbeitslosen- und Kriminalitätsstatistiken nicht hinter denen Berlins und Hamburgs verstecken müssen.
Tatsächlich ist im Sommer einiges los auf der Bundesautobahn 7, die auf ihrem langen Weg vom Allgäu bis nach Flensburg beinahe die gesamte schleswig-holsteinische Ostküste tangiert. Rastlos rasen Touristen aus aller Herren Länder durchs östliche Hügelland, verspeisen am Rasthof Hüttener Berge in Eile noch eine Currywurst, um bald darauf kurz vor der dänischen Grenze die Kurve zu kriegen. Im öden, backsteinarchitektonisch sehr interessanten Harrislee schneidet die Autobahn die Bundesstraße 199. Die bringt die Horden aus dem Süden dann binnen einer halben Stunde direkt ins Paradies – an die schleswig-holsteinische Westküste.
Es war nicht Bad Segeberg, wo Emil Hansen aus Nolde sich niederließ, um seine weltberühmten expressionistischen Gemälde zu malen. Es war auch nicht Kiel-Mettenhof, das Theodor Storm in seiner herben Liebeserklärung „Graue Stadt am Meer“ bedichtete. Nein, es war der heutige Landkreis Nordfriesland, der den Dichtern und Denkern seit jeher das Herz höher schlagen ließ. Wäre Nolde damals schon volljährig gewesen, hätte er sich mit Storm in Fietes Krug in Bredstedt auf einen Teepunsch treffen können.
„Gemach, gemach!“, höre ich nun so manch ostholsteinisches taz-Leserlein rufen. „Die Nordfriesen gehen doch schon vormittags in die Kneipe und wählen alle CDU.“ Ein müdes Gähnen entfährt mir. Mein Mund öffnet sich ähnlich weit wie der von Miss Schleswig-Holstein auf den Flensburger Pilsener-Flaschen. Brecht war schließlich auch ein Bayer. Und was Nordfriesland angeht, so gründete Landtag-Alteisen Irene Fröhlich die schleswig-holsteinischen Grünen in einer Husumer Eckkneipe, Hannes Wader schaffte seinen Durchbruch in einem Niebüller Kulturzentrum und Protest-Röhre Rio Reiser liegt unter einem Apfelbaum in der Nähe von Leck verscharrt.
CDU wählen die Nordfriesen natürlich trotzdem. Schließlich ist Spitzenkandidat Peter Harry Carstensen einer von ihnen. Wer mag es ihnen verdenken? Verspricht doch Carstensens Regentschaft, dass die Quelle der Subventionen, die die Ostküstler aus der Landesregierung so fleißig an den Westen zahlen, auf bald nicht versiegen wird. Außerdem gibt es ja auch einige Westküstler, die die rote Fahne wacker in den blanken Hans halten. Einer von ihnen ist Heinz-Werner Arens (SPD). Der Landtagspräsident stammt von der südlichen Westküste, aus Dithmarschen. Setzt er einen Schritt auf nordfriesischen Boden, wird er nicht müde zu erwähnen, wie schön es sei, als Dithmarscher den nördlichen Nachbarkreis betreten zu können, ohne die Fresse poliert zu bekommen. Die Anekdote geht auf eine alte Fehde zurück, die Dithmarscher kämpften nämlich einst auf dänischer Seite gegen die Nordfriesen.
Doch dies ist schon viele hundert Jahre her. Heute führen wir – Dithmarscher wie Nordfriesen – ehrfürchtig die rechte Hand zum Herzen, wenn der Dudelfunk RSH um Mitternacht das Schleswig-Holstein-Lied erklingen lässt. Und spätestens wenn das Studium ansteht, merken selbst eingefleischte Westküstler, dass auch Kieler Altbauwohnungen in billigen Backsteinbauten gar nicht so übel sind. Wie heißt es doch? „Schleswig-Holstein – auf ewig ungeteilt!“
von der Ostküste Esther Geißlinger
Zwischen der Ost- und der Westküste Schleswig-Holsteins gibt es kaum Verbindungen, nur ein paar holperige Landstraßen und eine Bahnlinie, die so viele Bögen schlägt, als wolle sie eigentlich das tun, was alle vernünftigen Wege in Schleswig-Holstein machen: von Nord nach Süd führen.
Das hat gute Gründe – wer im Osten lebt, möchte nicht in den Westen, denn der Osten birgt schon immer die Zivilisation. Wo befand sich die Wikingermetropole Haithabu? Beim heutigen Schleswig, an der Schlei, also quasi an der Ostsee. Wo saßen die Helden, die in Britannien aufräumten? In Angeln, also direkt an der Ostsee. Der Westen kann gegen diese Ruhmestaten nur alten Plunder auffahren, etwa die steinzeitlichen Grabhügel in Albersdorf, die aber eigentlich nur davon sprechen, dass die an der Westküste schon immer gerne mit Steinen spielten. Heute nennen sie das Boßeln, eine Art Volkssport, der im Osten vollkommen unbekannt ist.
Bereits die naturräumlichen Gegebenheiten machen deutlich, dass der Osten überlegen sein muss: Erstens ist die Ostsee, anders als die unzuverlässige Ebbe-Flut-Nordsee, immer da. Zweitens befinden sich an ihren lieblichen Gestaden die gewaltigen Bergmassive Schleswig-Holsteins, die Hüttener Berge und die berühmte Holsteinische Schweiz. Von dort hat der Ostküstenbewohner einen weiten Blick hinunter in die lehmige Tiefebene, in der sich die Westküstler tummeln.
Im Osten finden sich die quirligen Metropolen: Flensburg, die nördlichste Beinahe-Großstadt Deutschlands, bekannt durch die Verkehrssünderkartei sowie wichtige Hersteller von Erotik-Zubehör und Bier, das zauberhafte Lübeck, die Heimat von Thomas Mann und Willi Brandt, und natürlich die majestätische Landeshauptstadt Kiel, Sitz der Christian-Albrecht-Universität, Ausgangspunkt wichtiger Fährlinien und Mittelpunkt des politischen Lebens.
Der Osten hat Heide, die Ministerpräsidentin, eine „der Besten unter den Guten“, wie der Lübecker Björn Engholm lobte. Der Westen hat Heide, die Ortschaft, die mit dem größten Parkplatz – oder war es ein Marktplatz? – Norddeutschlands wirbt. Von der Kreativität der Ostküstenmenschen sprechen bereits die ausgefallenen Namen ihrer Dörfer, die Dollrottfeld, Rabenkirchen-Faulück oder Schnarup-Thumby heißen. Die im Westen schwanken dagegen zwischen Größenwahn – „Welt“ – und Ehrlichkeit: „Ekel an der Alten Sorge“.
Kein Wunder, dass der Osten dem Westen stets unter die Arme greifen muss. Allerdings wollen die Bauern an der Nordseeküste nicht begreifen, wie gut die Städter von der Ostsee es mit ihnen meinen. Lautstark protestieren sie gegen Vogelschutzgebiete und sind gar nicht froh darüber, dass ihnen der Nationalpark Wattenmeer vor die Küste gesetzt wurde. Dabei bringt der Urlauber, was den Westküstler freuen sollte: Er lebt von ihnen. Auf über fünf Millionen Übernachtungen im Jahr bringen es allein die Nordseebäder, das ist knapp eine Million mehr als in den Ostseebädern.
Ansonsten lebt der Westen von der Landwirtschaft, die nur kümmerliche zwei Prozent der Bruttowertschöpfung des Landes bringt. Um ein wenig Zivilisation in die verödeten Flächen zu bringen, baut die Landesregierung „Innovationszentren“ mit neckischen Namen wie NIC in Niebüll, CAT in Meldorf und IZET in Itzehoe. Außerdem hat das Land extra schöne Förderprogramme aufgelegt, die den armen Vettern im Westen zugute kommen: Die Kreise Nordfriesland und Dithmarschen liegen im Zielgebiet von „ZIEL“, was „Zukunft im eigenen Land“ heißt. Eine knappe Million Euro aus dem Ziel-Topf erhielt Mitte Januar allein die Nordseeakademie in Leck – das ist wahre Hilfeleistung und keinesfalls Wahlkampf.
Doch die im Westen sind undankbar und behaupten, sie hätten gar keine Zukunft. Dabei halten die Deiche alle, und dicht an Küste stehen so schöne Einrichtungen wie die Raffinerie in Hemmingstedt, die Bayer-Werke und das Atomkraftwerk in Brunsbüttel. Weil zudem viele Jung-Westküstler ihre Heimat verlassen, sobald sie können, sehen die Arbeitslosenquoten nicht einmal schlecht aus. Aber die im Westen bleiben stur und unken, dass bald der letzte Mensch vertrieben sei aus der Region.
Wenn es so wäre, hätte es sich gelohnt, keine vernünftigen Verbindungen in den Westen zu bauen. Doch sobald es darum geht, sich gegen die Bayern – Menschen, die südlich von Hamburg leben – zu verteidigen, rücken Ost- und Westküstler zusammen. Besonders wenn sie sich auf neutralem Boden im Ausland treffen, stellen sie fest, dass sie erstens in den selben Kneipen gehockt, zweitens gemeinsame Bekannte haben und sich drittens irgendeinen Großonkel teilen. Spätestens dann stimmen sie alle ein in die Hymne: „Ich will zurück an die Nordsee – ich will zurück nach Westerland!“