piwik no script img

Archiv-Artikel

In die Charts gespamt

Ein Babykrokodil namens „Schnappi“ hat mit einem Kinderlied die Charts erobert. Wie konnte das passieren?

Sie ist schon rührend, die Geschichte des kleinen Krokodils. Vor vier Jahren wurde Schnappi, das Babyreptil mit den Kulleraugen, von der Kinderlied-Komponistin Iris Gruttmann erschaffen. Als eines von vielen niedlichen Tieren, denen sie z. B. für die „Sendung mit der Maus“ simple Melodien widmete, gesungen von ihrer heute achtjährigen Nichte Joy. „Schni, Schna, Schnappi – Schnappi, Schnappi, Schnapp“. Nun steht der Song bereits in der dritten Woche auf Platz eins der deutschen Single-Charts. Auf Viva läuft das putzige Zeichentrickvideo. Längst ist Schnappi auch plärrender Jamba-Star. Und sogar von Spex-Lesern geadelt. Ein schönes Märchen.

Und Iris Gruttmann erzählt es gerne. Wie jemand den Schnappi-Song als MP3 ins Netz stellte, wie damit der gebloggte, gechattete, rundgemailte Wahn losging, wie hippe DJs die wunderbar fehlintonierte Kinderstimme von Joy zwischen ihre Hits mixten. Plötzlich lief der fast schon vergessene Song im Radio und dann rief auch schon Universal an. Man wolle dieses schnucklige Lied erneut veröffentlichen.

Mit dem Erfolgs-Deal blamierte Universal die gesamte Musikindustrie gleich in doppelter Hinsicht. Zum einen kann sie nun nicht mehr über verkaufsschädigende, kostenlose Downloads jammern. Zum anderen hat ein freches Kindchenschema die Retorten-Popstars überholt. Die Geister, die man rief. Oder die Geisterfahrer – denn wann bitte gab es schon den größten Hype, bevor die Platte erschien?

Es wäre müßig, über die Endstufe der Infantilisierung der Populärmusik zu sinnieren, immerhin tauchen kurzlebige Gassenhauer aus dem Kinderzimmer zyklisch auf: siehe Vader Abraham oder „Ententanz“. Schnappi ist vielmehr der Produkt einer neuen Form von Kultwerdung. Es handelt sich um eine Hit gewordene Kettenmail, die so oft durch Foren und Chatrooms geschleift wurde, bis sie zwangsläufig in die reale Welt ausbrechen musste. Hits müssen also nicht aufwendig produziert und promoted werden, um auf Heavy Rotation zu laufen – sie können auch nach oben gesmst, gedaddelt und gegoogelt werden. Spam erreicht die Charts. Mittlerweile steht die „kleine Joy“ (wie man bei Universal gerne betont) für ein ganzes Album im Studio. Die Plattenindustrie hat es eben immer noch nicht verstanden: Jede Gag-Mail, sei sie noch so gut, landet irgendwann im Papierkorb. PATRICK BAUER