: Folter ist nicht Folter
Die Mehrheit in den USA weiß, was in Abu Ghraib und Guantánamo passiert – und schweigt. Freie Bahn für Menschenrechtsverachter. Grüße von der Heimatfront (11)
Der „Krieg gegen den Terrorismus“ hält unvermindert an, weswegen die Dramaturgen der zweiten Inauguration des George W. Bush vor einem Dilemma standen: Darf man für 40 Millionen Dollar eine Party geben, wenn im Irak immer noch amerikanische Soldaten sterben? Ganz zu schweigen von den toten Irakern, die ohnehin keiner zählt?
Man darf, solange die Armee auf ihre Kosten kommt. Gleich nach dem Amtseid geht’s zum „Commander-in-Chief-Ball“, wo 2.000 handverlesene Soldaten George W. Bushs Dankesrede für ihr Heldentum im Kampf für Freiheit und Demokratie erwarten. Nicht dabei sein wird Feldwebel Joseph Darby, dessen Heldentat darin bestand, seine folternden und fotografierenden Kameraden in Abu Ghraib bloßzustellen. Er bekommt seitdem Todesdrohungen und lebt unter Militärschutz an einem geheimen Ort.
Nicht dabei sein kann auch der Reservist Charles Graner, der in Abu Ghraib so gerne mit seinem „Hi Mom!“-Lächeln hinter Pyramiden nackter Häftlinge posierte. Er wurde letzte Woche von einem Militärgericht wegen Körperverletzung, sittenwidriger Handlungen und Behinderung der Justiz zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sein Verteidiger hatte argumentiert, dass Menschenpyramiden eine durchaus gebräuchliche Technik zur „Kontrolle von Häftlingen“ seien. Im Übrigen würden auch amerikanische „Cheerleader“ Pyramiden bilden.
Als die Bilder aus Abu Ghraib um die Welt gingen und empörte Senatoren mit bebenden Stimmen rückhaltlose Aufklärung ankündigten, machte das Wort vom „Selbstreinigungsprozess“ die Runde. Die Supermacht mit Missionsanspruch hatte sich (wieder einmal) bei einer Sünde ertappt. Nun sollte wie bei Watergate untersucht, aufgedeckt, dokumentiert, bestraft und bereut werden.
Nichts dergleichen ist geschehen. Der „Selbstreinigungsprozess“ hat bis auf weiteres bei Soldaten wie Charles Graner aufgehört. US-Soldaten halten auf Guantanamo Bay immer noch 500 Gefangene unter Bedingungen, die das Internationale Rote Kreuz als „gleichbedeutend mit Folter“ bezeichnet. Gemeint sind Schläge, sexuelle Erniedrigung, Schlafentzug oder tagelange Fesselung, bis der Gefangene in den eigenen Exkrementen liegt. Die CIA fliegt immer noch „kooperationsunwillige“ Verdächtige in „befreundete“ Länder aus, wo drastischere Techniken üblich sind. Und noch immer operiert in Bagdad die Spezialeinheit „Task Force 6-26“, die nach Berichten der Washington Post dort ein geheimes Gefängnis geführt hat und für den Foltertod von mindestens zwei Häftlingen verantwortlich ist.
Noch immer arbeiten für die Regierung jene Juristen, die ihrem Präsidenten eilfertig erklärt haben, was alles nicht unter den Straftatbestand der Folter fällt: jede „aggressive Verhörtechnik“, deren Schmerz mit dem vergleichbar ist, was ein Mensch „im Zuge einer schweren physischen Verletzung wie Organversagen, verminderte Körperfunktion oder gar Tod“ verspürt. Dieser Satz, zitiert aus einem Memorandum des US-Justizministeriums, ist und bleibt eine Monstrosität – auch wenn ihn das Ministerium nicht mehr als (offiziell) herrschende Meinung verstanden wissen will.
Alberto Gonzales, bislang Bushs Rechtsberater im Weißen Haus, der dieses Memorandum in Auftrag gegeben hat, wird demnächst Justizminister. Bei der Anhörung im Kongress, der die Personalvorschläge des Präsidenten für sein Kabinett ablehnen kann, fragte kein Senator, was man sich unter einer „aggressiven Verhörtaktik“ vorzustellen hat, bei der Schmerz vergleichbar mit „Organversagen“ erzeugt wird. Kein Senator wagte das Offensichtliche auszusprechen: ein Jurist, der die systematische Verletzung elementarer Menschenrechte in Orwell’schen Rechtsjargon verpackt, ist für das Amt des Justizministers untragbar.
Sind die Medien schuld? Keineswegs. Zumindest nicht die Printmedien. Seit drei Jahren drucken der New Yorker, die New York Times, die Washington Post kontinuierlich, was Reporter oder Bürgerrechtler an Folterpraktiken offen legen und was ihnen anonyme Informanten aus den Ministerien an Unterlagen zuspielen. Aber das „System der Folter hat seine Aufdeckung überlebt“, schreibt Mark Danner, Autor des Buchs „Torture and Truth: America, Abu Ghraib and the War on Terror“.
Der „Bilderschock“ von Abu Ghraib war eben nicht die Stunde der Menschenrechtler, der Aufklärer, der investigativen Journalisten und kritischen Parlamentarier. Er war rückblickend die Stunde der Juristen vom Schlage Gonzales’, die das Abgebildete Satz für Satz entschärft, verschleiert und verharmlost haben – bis es nicht mehr Folter ist. Er war auch die Stunde der Politmoderatoren, der „TV-Experten“ und „Hühnerfalken“, die die Diskussion über Menschenrechte in eine pubertäre Macho-Show verwandelt haben.
Wer im „Krieg gegen den Terrorismus“ auf Genfer Konventionen pocht, ist in ihren Augen verweichlicht und damit unfähig, die USA gegen neue Angriffe zu verteidigen. Wer hingegen „die Samthandschuhe auszieht“ und „außerhalb alter Strukturen denkt“, um nur zwei Euphemismen für Folter zu nennen, der ist Manns genug, das Land zu schützen.
Dieses Diktat des Machismo, kombiniert mit den Wortdrechseleien der Hausjuristen und den rituellen Bekenntnissen zu „Freiheit und Menschenrechten“, garantiert der amerikanischen Regierung bis auf weiteres die Lufthoheit in der Folterdebatte. Journalisten wie Seymour Hersh und Mark Danner finden keine Öffentlichkeit, die politische Konsequenzen fordert. Die amerikanische Öffentlichkeit weiß, was man wissen muss – und ihre Mehrheit zieht es vor, die herrschende Praxis zu akzeptieren.
Da reicht es leider nicht mehr, den Verlust von amerikanischer „soft power“ zu beklagen. Liberale Kritiker der Bush-Regierung wie der Harvard-Politologe Joseph Nye verstehen damit die schwindende Anziehungskraft „amerikanischer Werte wie Demokratie, Menschenrechte und individuelle Entfaltung“.
Das Problem ist doch: Da die herrschende Elite in den USA universelle Werte nunmehr ausschließlich als amerikanische reklamiert, fühlt sie sich berechtigt, im Rahmen ihrer „großen, guten Mission“ diese Werte nach Bedarf außer Kraft zu setzen. Die Enttäuschung, Wut und den Hass, den sie so erzeugt, dämpfen auch keine Millionen von Dollars für „public diplomacy“ – also globale Werbekampagnen.
Davon abgesehen weiß man auch nicht mehr genau, was derzeit in Washington als „soft power“ verstanden wird: der Export von Demokratie oder die Verbreitung eines religiösen Sendungsbewusstseins. Sein Mandant, erklärte der Verteidiger im Prozess gegen Charles Graner, sei kein Krimineller, sondern ein guter, großherziger Soldat, der „Bibeln an die Iraker verteilt hat“. Das war Graners „soft power“ – und wie bei seinem blutigen Einsatz von „hard power“ kann er sich auch hier auf die geistige Patenschaft seiner Oberkommandierenden berufen.
ANDREA BÖHM