: Kriegsdienst auf eigenes Risiko
Für einen Soldaten, der im Tschetschenienkrieg Invalide wurde, fühlt sich der russische Staat nicht zuständig. Der Betroffene soll Entschädigung in Grosny beantragen
MOSKAU taz ■ Gennadi Uminski traute seinen Ohren nicht, als er das Urteil vernahm. Der beim Sturm auf Grosny 1996 mehrfach verwundete Vertragssoldat habe kein Recht, an den Staat Entschädigungsforderungen zu stellen, entschied das Landgericht im nordostrussischen Orl. Ansprüche müsse der ehemalige Stabsfeldwebel an jene stellen, die ihm die Verletzung zugefügt hätten. Kurzum: an die tschetschenischen Rebellen und ihren damaligen Kommandeur Schamil Basajew.
Die Staatsanwaltschaft in Orl war in Berufung gegangen, nachdem das Amtsgericht das Verteidigungsministerium zu einer einmaligen Zahlung von 30.000 Dollar und einer monatlichen Invalidenrente von 800 Dollar verurteilt hatte. Das Landgericht hält die Entscheidung der Erstinstanz für einen Fehler: die Annahme, der Staat müsse einspringen, wenn sich die Verursacher der Verantwortung entzögen, sei nicht begründet.
„Basajew wird feixen, über diese Idiotie muss auch ich lachen“, meinte der hochdekorierte Frontkämpfer gegenüber der Gaseta. Drei Wochen war der 38-Jährige bei der Schlacht um Grosny in einem Gebäude eingeschlossen. Von 200 Mann in der Einheit überlebten 50 die Belagerung. Uminski erlitt Quetschungen, Granatsplitter durchsiebten beide Beine. Ein Jahr verbrachte er im Krankenhaus, heute ist er zu 90 Prozent behindert.
Erst nach einem jahrelangen Grabenkrieg mit dem Verteidigungsministerium reichte Uminski 2002 Klage gegen den Arbeitgeber ein. Das Verteidigungsministerium hatte den Kontraktnik, zu Deutsch Vertragssoldat, noch während des Krankenhausaufenthaltes 1997 aus der Armee entlassen: wegen längerer Abwesenheit von der Einheit, so die Begründung.
Doch damit nicht genug. Der nordkaukasische Wehrkreis führte den Verletzten als vermisst und fand dessen Unterlagen nicht. Daraufhin erhielt Uminski weder Sold noch die obligatorische „Tschetschenische“ – eine Versicherungsleistung für Tschetschenienkämpfer. Später vor Gericht zweifelte das Ministerium grundsätzlich daran, dass der Feldwebel in Tschetschenien im Einsatz gewesen sei.
In der Urteilsbegründung stützt sich das Landgericht auf das Bürgerliche Gesetzbuch, das den Verursacher ausschließlich für entstandenen Schaden haftbar macht. Auch das Wehrdienstgesetz hat dem Staat ein Schlupfloch offen gelassen. Kriegsdienst, heißt es da, sei mit Risiko für Leib und Leben verbunden. Anders gesagt: Selbst schuld, wer dient und sich verwunden lässt. Verteidigung des Vaterlandes ist jedermanns Privatsache.
Der Vorsitzende des Gesetzgebungsausschusses der Duma, Pawel Kraschennikow, fand die Entscheidung „seltsam“ und riet dem Kläger, vor Russlands Oberstes Gericht zu ziehen. Doch der setzt wenig Hoffnungen in die Justiz. Ein Präzedenzfall solle vermieden werden, da sein Schicksal nicht einmalig sei, meint Uminski. „Tausende sind nach dem Tschetschenienkonflikt in einer ähnlichen Lage.“ Stellten auch noch Leidtragende des Afghanistankrieges und Opfer terroristischer Anschläge Forderungen, triebe dies den Staat in den Ruin.
Dass sein Fall publik wurde, hat vor allem mit seinem Posten als Vizevorsitzender des Frontkämpferbundes „Kampfbruderschaft“ zu tun. Dessen Vorsitzender ist Boris Gromow, Afghanistanveteran, General und amtierender Gouverneur des Moskauer Verwaltungsgebietes.
Nach Angaben des russischen Rechnungshofes schuldete der Staat bis Mai 2004 den Armeeangehörigen zehn Milliarden Rubel an Kompensationsleistungen, umgerechnet 350 Millionen Dollar. Davon entfallen 27 Millionen auf Entschädigungszahlungen, zu denen Gerichte das Verteidigungsministerium in 9.300 Fällen verurteilt hatten. Doch dies stellt sich taub. Reagiert haben unterdessen die Tschetschenen. Eine Entschädigung sei denkbar, teilte Nabir Abdullajew, Kommandeur der Rebellenstreitkraft, Uminski telefonisch mit. Allerdings werde die ganze Welt davon erfahren. „Russlands Ansehen sinkt dann unter null“, sagte der Veteran der Gaseta. Das täte ihm Leid. KLAUS-HELGE DONATH