: Keiner kauft das Palästinensertuch
Normalerweise boomt vor allem im Dezember, aber auch im Januar der Tourismus nach Israel und Bethlehem. Doch selbst die Pilger kommen nicht mehr. Unter den sinkenden Touristenzahlen leiden Israelis und Palästinenser gleichermaßen. Eine Reise ins touristische Abseits
VON RASSO KNOLLER
Vor der Geburtskirche stehen normalerweise die Menschen Schlange und warten lange, bis sie durch die niedrige Eingangspforte, „das Tor der Demut“, mit gesenktem Kopf die Kirche betreten können. Schon an normalen Tagen quoll früher der Platz vor der Kirche von Touristenbussen über. Heute sieht man kaum Touristen. Die Souvenirverkäufer scharen sich um mich. Palästinensertücher in großer Auswahl und zu günstigem Preis werden mir angeboten. Was ich nicht kaufe, wird heute gar nicht mehr verkauft.
Unter den sinkenden Touristenzahlen leiden Israelis und Palästinenser gleichermaßen. In Jerusalem ist der Bazar ebenso menschenleer wie die Geschäfte im benachbarten Bethlehem, und die Betten der Hotels warten hier wie dort vergebens auf Gäste. Abu Aita, palästinensischer Tourismusminister, nennt in diesem Zusammenhang deprimierende Zahlen: 40.000 bis 50.000 Besucher seien im letzten Jahr in Bethlehem gezählt worden. Zumeist Tagesgäste, die einen kurzen Abstecher zur Geburtskirche unternahmen. Die Vergleichszahlen aus dem Jahre 2000 zeigen das Ausmaß der Krise an: 1,5 Millionen Touristen strömten damals in die Geburtsstadt Jesu. Selbst die christlichen Pilgergruppen, einst das Rückgrat des Israeltourismus, kehren dem Geburtsland Jesu den Rücken.
„Billig“, versichert mir der Händler in gebrochenem Deutsch, in holprigem Englisch geht es dann weiter und er sagt, dass er schon seit Tagen nichts mehr verkauft habe. Nach einem Verkaufstrick hört sich das nicht an. Denn am nächsten Tag steht er vor meinem Hotel, wieder mit einer Hand voll Palästinensertücher, und wieder bin ich der einzige Kunde. Das neue riesige Parkhaus, extra erbaut für den Touristenansturm zum Jahr 2000, steht leer, die Geschäfte sind geschlossen und die Straßen verwaist. Zur Stimmung passend regnet es.
Warten am Checkpoint. Ein Soldat in Kampfanzug und mit Maschinengewehr betritt den Bus. Wir halten unsere Pässe hoch. Die sind rot und deutsch, und deswegen ist die Prozedur schnell überstanden. Der Soldat mit Berliner Akzent ist freundlich und lacht. Ein Berliner als israelischer Soldat am Checkpoint in Bethlehem? Lachend bejaht er meine Frage und ist auch schon aus dem Bus verschwunden. Durch das beschlagene Busfenster sehe ich, wie nebenan der Kofferraum eines Autos geöffnet wird. Der Innenraum wird durchsucht, der Fahrer nach Waffen abgetastet. Er muss seinen Passierschein vorzeigen. Er hat keinen roten Pass. Er ist Palästinenser, wohnt hier und hat kein Recht auf eine bevorzugte Behandlung.
Nur wenige Meter hinter der acht Meter hohen Mauer, die die Bewohner der Stadt auf wenigen Quadratkilometern einsperrt, liegt das Kinderhospital Bethlehems. Das Krankenhaus ist modern ausgestattet, hat 200 Angestellte und dient als Ausbildungszentrum für Krankenschwestern. Das beste Krankenhaus in Palästina – ein Vorzeigemodell. Die Kinderärztin Dr. Hiam Marzouka versichert: „Wir nehmen alle Kinder auf, solange sie in unsere Betten passen. Wir schicken niemanden weg.“ Gegenwärtig hat das Krankenhaus ein ganz anderes Problem: 50 Prozent der Betten stehen leer. Und das liegt nicht etwa daran, dass Palästinenserkinder besonders gesund seien. Im Gegenteil: Durch den Stress, dem sie tagtäglich ausgesetzt sind, erkranken sie häufiger als etwa Kinder aus Mitteleuropa. „Die Kinder kommen einfach nicht mehr hierher“, erklärt Dr. Marzouka. Ohne Passierschein läuft auch für Kranke nichts, und um ein Kind aus Ramallah, knapp 30 Kilometer nördlich gelegen, oder Gaza, gerade mal 100 Kilometer im Südwesten, ins Krankenhaus nach Bethlehem zu bekommen, müssen die Eltern einen enormen zeitlichen und nervlichen Aufwand betreiben. Passierscheine werden nämlich nicht an jeder Straßenecke freizügig ausgestellt, sondern einzig in Hebron. Dort stellt man sich, egal ob die Sonne vom Himmel brennt oder der Regen niederprasselt, stundenlang im Freien vor einem einzigen Fenster der israelischen „Passierscheinbehörde“ an und beantragt die Erlaubnis für eine Reise, deren Ziel oft in Sichtweite des eigenen Hauses liegt. Auch für kürzeste Strecken müssen Palästinenser, so sie denn israelisches Gebiet durchfahren müssen, die Erlaubnis der israelischen Regierung einholen.
Dr. Marzouka erklärt, dass selbst ein Krankenwagen nicht einfach von einem Ort des Palästinensergebiets zum anderen fahren kann, auch für die kleinen Patienten und die mitfahrenden palästinensischen Ärzte und Krankenschwestern ist immer ein Passierschein erforderlich – und oft langes Anstehen an den Checkpoints. In eiligen Fällen wird deswegen das schwer kranke Kind zu Fuß und im Arm der Krankenschwester durch den Checkpoint getragen. So schikanös die israelischen Behörden verfahren, so freundlich ist die Zusammenarbeit unter Kollegen. „Manche Krankheiten können nur im Hadassah-Hospital“ – einem jüdischen Spitzenkrankenhaus in Jerusalem – „behandelt werden“, so Dr. Marzouka. Auf offizieller Ebene gehe man miteinander sehr geschäftsmäßig um, aber die Hilfsbereitschaft einzelner Ärzte sei teilweise überwältigend, lobt die Palästinenserin ihre jüdischen Kollegen. Viel Optimismus scheint ihr das aber nicht zu geben: „Ich als Palästinenserin habe keine Hoffnung, dass die Lage sich verbessern könnte, es werden viele Versprechungen gemacht, aber die Lage verschlechtert sich eindeutig für uns.“
Seit Dr. Antke Züchner, eine deutsche Ärztin aus dem ostfriesischen Emden, in Bethlehem Dienst tut und die Krankenfahrten begleitet, hat man aber zumindest ein Problem weniger: Man muss fürs Begleitpersonal keinen Passierschein mehr beantragen, denn Dr. Züchner hat einen deutschen Pass, und der ermöglicht den problemlosen Übergang über den Checkpoint. Aber auch das hat seine Schattenseiten. Sie erzählt, dass sie es inzwischen ihren palästinensischen Kollegen verheimliche, wenn sie ins fünf Kilometer entfernte Jerusalem zum Einkaufen oder Kaffeetrinken fahre. Denn das alles ist für die Bewohner Bethlehems unmöglich und führt natürlich zu Neid im Kollegenkreis.
Wäre es nur der Einkaufsbummel in Jerusalem, auf den Khadra Zreineh verzichten müsste, wäre sie wahrscheinlich der glücklichste Mensch auf Erden. Sie erzählt, wie ihre Mutter während der Intifada von israelischen Soldaten angeschossen wurde, und bricht in Tränen aus. „Darüber zu sprechen ist für mich wie eine Therapie.“ Eine Therapie, die vermutlich viele Bewohner der Stadt nötig hätten. Das Schicksal von Khadra Zreineh ist kein Einzelfall. Sie hat früher Touristen in ihr Haus eingeladen. Für ein paar Schekel konnte man bei ihr hervorragend essen und sich vom Leben einer palästinensischen Familie erzählen lassen. Das kann man zwar heute immer noch, nur sind die Gäste seltener und die Geschichten tragischer geworden. Khadra Zreineh ist in Deutschland aufgewachsen, lebt aber schon lange wieder in Bethlehem. Sie erzählt, mit welch großen Hoffnungen man dem Jahr 2000 entgegengesehen, berichtet von Renovierungsarbeiten vor dem Jubiläumsjahr und von der Euphorie, die damals in der Stadt geherrscht habe. „Dann aber kam die Intifada und alles war vergebens“, resümiert sie. Die Israelis besetzten die Stadt, und auf dem Flachdach ihres Hauses, von dem aus man den Ort bestens übersehen kann, wurde für ein halbes Jahr ein Maschinengewehrnest der israelischen Armee eingerichtet.
Zurück im Hotel. Eigentlich ist das „Paradise“ das erste Haus am Platz. Und von außen sieht es auch so aus. Schmucke Fassade, alles neu renoviert, in der Eingangshalle lächelt Jassir Arafat vom Foto. Die Rundumerneuerung war aber keine freiwillige Entscheidung des Besitzers. Während der Intifada im Jahr 2000 hatten die Israelis Mündungsfeuer palästinensischer Kämpfer auf dem Dach ausgemacht und dann das Hotel mit Raketen beschossen. Die oberen Stockwerke wurden völlig zerstört, die unteren stark beschädigt. Ob wirklich vom Dach des Hotels aus gefeuert wurde, bleibt, wie so vieles andere in diesem Konflikt, widersprüchlich. Der Bestätigung der einen Seite folgt fast zwangsläufig der Widerspruch der anderen.
Mein Zimmer liegt im fünften Stock, dem einzigen, der bisher wieder bewohnbar gemacht wurde. Dass unter mir laut hörbar gearbeitet wird, deute ich als gutes Zeichen. Offenbar glaubt der Besitzer an die Zukunft seines Hauses. Zurzeit würde der renovierte fünfte Stock aber leicht ausreichen, um die wenigen Gäste zu beherbergen.