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Archiv-Artikel

Auschwitz-Überlebender bannt junge Zuhörer

Der Historiker Arno Lustiger stellt in der ehemaligen Gestapozentrale von Köln sein Buch „Sing mit Schmerz und Zorn“ vor. Das überwiegend jugendliche Publikum ist gefesselt von der Schreckensodyssee durch die Todeslager der Nazis

KÖLN taz ■ Vierzig Jahre lang hat er über seine Erfahrungen geschwiegen. „Ich konnte weder darüber reden noch schreiben“, beginnt Arno Lustiger seine Lebensgeschichte. Erst eine Begegnung mit dem Historiker Saul Friedländer löste die Blockade. Mit 60 Jahren begann der Holocaust-Überlebende und Amateurhistoriker zu schreiben. Seine Bücher, in denen er sich mit dem von einigen Historikern bestrittenen jüdischen Widerstand beschäftigt, sind heute Standardwerke.

Im letzten Jahr ist er 80 geworden. Zu seinem Geburtstag hat sein Verlag unter dem Titel „Sing mit Schmerz und Zorn“ eine Sammlung autobiografischer Texte vorgelegt, mit denen der Autor Ende der vergangenen Woche zu Besuch im Kölner EL-DE-Haus war.

In den kahlen Räumen der ehemaligen Gestapozentrale haben sich rund siebzig überwiegend jüngere Zuhörer eingefunden. Wolfgang Richter vom Jugendclub Courage, der die Lesung veranstaltet, weist auf den ungewöhnlichen Ort hin. „Wir möchten den Raum mit den Worten und Zeugnissen der Überlebenden füllen“. Lustiger, der lieber erzählen als aus seinem Buch lesen will, beginnt mit einer Beschreibung seiner westpolnischen Heimatstadt Bedzin. Er zeichnet das Panorama einer kulturellen und wirtschaftlichen Metropole jüdischen Lebens. „Ich gebe vielleicht an mit meiner Stadt, aber das müssen Sie mir verzeihen. Ich erzähle ja nichts, was nicht stimmt.“

Am 4. September 1939 ist der Frieden vorbei. Die Deutschen marschieren in Bedzin ein, das fortan zum Deutschen Reich gehört. Es beginnt die Zeit der Verfolgung. In Bedzin schreitet sie langsamer voran als in den Ostgebieten, es gibt keine brutalen Massenerschießungen.

Doch ab 1942 geht dann alles ganz schnell. Die Deportationen beginnen. Lustiger, seine Eltern und seine vier Geschwister werden auf verschiedene Lager aufgeteilt. Für Lustiger beginnt eine kaum vorstellbare Schreckensodyssee. Er überlebt Auschwitz, Buchenwald und das Lager Langenstein im Südharz, wo die Insassen eine Lebenserwartung von vier Wochen haben. Dort rettet ihm ein deutscher Vorarbeiter das Leben. Er sperrt den völlig entkräfteten Lustiger für einen Tag in eine Werkzeugkiste. „Dieser eine arbeitsfreie Tag hat mein Leben gerettet“, ist Lustiger heute überzeugt. Dann kommen die Todesmärsche, auf denen jeder Zweite stirbt („Wer nicht mehr gehen konnte, wurde erschossen“).

Schließlich flüchtet er, wird gefasst und soll erschossen werden. Lustiger kann wieder fliehen, die Kugeln fliegen an ihm vorbei. „Ich weiß bis heute nicht, ob das schlechte Schützen waren oder gute Menschen.“ Amerikanische Truppen greifen ihn schließlich auf und retten den völlig Unterernährten. Er arbeitet als Dolmetscher für die US-Armee, erhält eine Waffe und eine Uniform. „Das war die schönste Zeit meines Lebens“, sagt er heute.

Lustiger zieht das Publikum mit seinem lakonischen Bericht in den Bann. Er berichtet auch über seine misslungenen Auswanderung in die USA. Sie scheitert daran, dass seine Schwester aufgrund ihrer Tuberkulose-Erkrankung den Gesundheits-Check der Einwanderungsbehörden nicht besteht. Lustiger versucht vergeblich, einen Beamten der Einwanderungsbehörde zu überzeugen, zerreißt schließlich seine Einwanderungsgenehmigung und schleudert dem Beamten ein „Fuck You“ entgegen, das er von den US-Soldaten aufgeschnappt hat.

„So endete die Geschichte meiner Auswanderung nach Amerika“, beendet Lustiger die Episode. Der 80-Jährige betont, dass es nicht sein Wunsch war, in Deutschland zu bleiben. „Aber ich habe mich hier eingerichtet.“ Mit Blick auf die Zukunft habe er aber keine schlaflosen Nächte: „Auschwitz wird sich nicht wiederholen.“ Patrick Hagen

Arno Lustiger: „Sing mit Schmerz und Zorn. Ein Leben für den Widerstand“: Aufbau-Verlag, Berlin 2004, 22,50 Euro