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Archiv-Artikel

„Wat Besonderet, ebent“

Haben wir nicht alles schon probiert? Die Spielwiese für neue Gaumenkitzel wird knapp, dennoch gibt es von Noni bis hin zu Rapseis wahre Weltpremieren auf der 70. Grünen Woche. Ein Rundgang

VON ADRIENNE WOLTERSDORF

Innovation ist im Einsteinjahr angesagt, auch Querdenken – der Magen muss angesichts so viel Furors im Lebensmittellabor ebenfalls einiges mitmachen. Dabei scheint so manche Ernährungsgewissheit an Gültigkeit zu verlieren. Was oben lag, ist jetzt schon mal unten zu finden, und so. Gummi, eben noch ein Garant für Schutz und festen Halt, scheint passé (siehe Foto). Zumindest in Halle 26 b, dem neuen Wellness-Tempel der Grünen Woche. Die ist schlichtweg Fundgrube für News. Denn was den schlichten Bauern seit Jahrhunderten nicht einfallen wollte, schaffen ein paar Shiatsu-Freaks innerhalb nur einer EU-Zertifizierungsperiode.

Da wäre zunächst die skurrile Noni zu nennen. Eine hässliche, kaktusähnliche Palmenknolle ohne Stachel. Die Frucht aus Tahiti gibt es nur in Plastik zu bestaunen, denn sie zerfällt so schnell, dass sie es in Natura auf keinen Fall bis auf das Berliner Messegelände schaffen würde. Noni gibt es als Saft und nur in Begleitung einer Geschichte. Neue Marketingmethoden verlangen vom Kunden – und Messebesucher – Durchhaltevermögen. „Tell the story“ heißt das Verkaufskonzept, nach dem sich Interessierte zunächst die Heilungsgeschichte einer Noni-Jüngerin anhören müssen. Das Früchtchen aus Französisch-Polynesien soll es in sich haben: Als Turboentgifter und Mega-Enzymball soll die Noni das Immunsystem so aufputschen, dass sich der stolze Flaschenpreis von rund 168 Euro hoffentlich durch lebenslange Krankenkassenbefreiung rechnet. Den Saft, in Europa erst seit 2003 überhaupt zugelassen, gibt es nur unter www.nonikiss.de und erstmalig auf der Messe.

Gleich nebenan überrascht Österreich mit einer verblüffend simplen Erfindung: dem Kartoffel-Handbalsam. Eine alte Hauspampe der Waldvierteler Bauern aus dem nördlichen Österreich findet nun dank einer Marzahner Apotheke Anwendung auf den geschundenen Händen Berliner Hartz-IV-Arbeiter. Immerhin ist diese Innovation auch noch für Alg-II-Bezieher erschwinglich: 6,95 Euro. Wunderbar duftend und weich machend, „wat Besonderet, ebent“, wie die Vertriebschefin meint, da weiß man, was man hat.

Am fröhlichsten panscht sich Neues natürlich im Getränke-Sektor. Da ist noch viel nicht gemixt worden und verspricht weiterhin Spannung auf den Grünen Wochen der kommenden Jahre. Zunächst das Neuzeller Kirschglühbier. Sangriaähnlich, gewürzt mit Zimt, Orangenscheiben und heimischem Kirsch- und Holundersaft, schmeckt das Bier aus dem 1268 gestifteten Kloster im Oder-Spree-Gebiet warm und süß. Die Neuzeller Brauerei hat auch Badebier im Angebot. Tja, was tut man nicht alles, wenn der Tourist gelockt werden will. Toll ist die Ausflugskarte für rund um Neuzelle, die man am Stand in Halle 26 auch bekommt. Macht Lust, das Kirschbier in Flaschen für 1,33 Euro vor Ort runterzustürzen.

Für Liebhaber von exotischen Haustieren ist die Innovation in Halle 3.2 ein wahre Freude. Angekündigt unter „Sonderthema Wasserbüffel“, zeigt der Büffelhof Burgstedt aus Sachsen, was jenseits von Mozarella aus diesen genügsamen Tieren noch rauszuholen ist. Horst Lüpfert reiste, nachdem er seine Kühe wegen der Milchquote abzuschaffen begann, nach Bulgarien und entdeckte dort die zotteligen Büffel, die eigentlich prima ohne Wasser auskommen. Ihre Milch, die dreimal mehr Fett enthält als Kuhmilch, verwandelt Lüpfert nun in Schnittkäse, Jogurt, cremige Büffel-Trüffel und sogar in Büffelsahnelikör. Den hat Bauer Lüpfert letztes Jahr selbst erfunden, sagt er stolz und bietet ein winziges Schlückchen an. Sechs Stunden muss die Milch pasteurisiert werden, dann kommen Karamel und Alkohol hinzu – die sächsische Antwort auf Batida de Coco.

Richtig rekordträchtig ist auf der Grünen Woche aber nur die Sparte Eis. Hier gibt’s eine Weltpremiere und ein Weltunikum zu testen. Auf dem Biomarkt der Messe steht die „Eiszauberei“ und verblüfft mit einer Just-in-Time-Produktion. Das Bio-Basis-Mixeis wird vor den Augen der Schlecker mit allem gemixt, was der Gaumen verträgt. Von Meerrettich über Gemüse bis Sanddorn und Frucht sind dem guten Geschmack keine Grenzen mehr gesetzt. Weltweit einzigartig ist das softige Mixeis-Konzept, da es im Bioeis-Bereich bislang nur Eiskugeln gibt. „Bio ist ein Muss“ weiß der Rheinsberger Eiszauberer Wolfgang Brasch, aber bis nach Berlin hat er sein Franchisekonzept noch nicht vermarktet.

Nun zur Weltpremiere: Irgendwie geht in Halle 23 a, der Sonderschau des Verbraucherschutzministeriums, einiges durcheinander. Öl, welches bekanntlich für saubere Motoren verwendet wird, soll nun lecker schmecken. Hingegen werden Fahrradketten künftig mit gutem Sonnenblumenöl quietschfrei gemacht. Muss das sein, fragt man sich? Muss, antwortet bescheiden und leise der Einstein der Grünen Woche, der Lebensmitteltechniker Gerhard Kloth. Er hat im Labor zusammengerührt, was nur in Mecklenburg-Vorpommern zusammengehört: Rapsöl und die blaue Süßlupine, eine bekannte Gartenblume. Die neue Mixtur heißt noch recht unschön „Raps-Lupinen-Eis“ und könnte für all diejenigen, die eine Milch-Allergie haben, die Rettung in heißen Sommern werden. Zugegeben, für echte Fans einer dänischen Eiskette die mit H. beginnt, verhält sich das Rapseis zu echtem Eis wie Soja-Bratlinge zu Berliner Buletten – aber die Raps-Nuss-Mischung schmeckt köstlich kräftig. Das Ganze ist eine selbstbewusste Alternative zu Import-Soja, „denn es wächst doch alles hier“. „Hier“ ist entscheidend. „Hier treffen innovative Landwirtschaft, die sich auf neue Erzeugerstrukturen und Verarbeitung regionaler Produkte spezialisiert, und moderne wissenschaftliche Verfahrenstechniken zur optimalen Nutzung von Planzenrohstoffen aufeinander“, heißt das in der Mundart des Regionalmanagements. Aber wir gönnen es den Mecklenburgern, ist ja sonst nicht so viel los da oben. Kloth selbst denkt noch an weitere Überraschungsprodukte. Im nächsten Jahr könnte es dann endlich den Lupinen-Quark geben – ganz ohne Milcheiweiß. Oder die gesunde Variante der Raps-Lupinen-Mayo. Das RL-Zeitalter hat im Norden gerade erst begonnen, warten wir’s ab, mit welcher trotzigen Innovationskraft uns der Osten demnächst noch überraschen wird.