Der Wahre, Schöne, Gute

Es stimmt schon: Der Songwriter Conor Oberst (24) war ein Wunderkind, jetzt ist er ein Wunder. Denn mit gleich zwei neuen Platten seiner Gruppe Bright Eyes kehrt die Authentizität in die Popmusik zurück – ob uns das passt oder nicht

VON ARNO FRANK

„Es war grauenvoller als alles, was ich je in meinem Leben gehört habe, und ich sah zum ersten Mal den Ausdruck seines Gesichts während des Spiels, ein Antlitz, aus dem ich lesen konnte, dass diesmal blanke Furcht das Motiv war. Er versuchte etwas zu übertönen, das von draußen her einzudringen drohte – was es aber war, konnte ich mir nicht erklären.“ („Die Musik des Erich Zann“, H. P. Lovecraft)

Es gibt hier nichts zu lesen, bitte blättern Sie weiter! Warum? Weil wir am liebsten diesem Drang nachgeben würden, diesen Zauber für uns zu behalten, und vermeiden wollen, dass er langsam verloren geht, je mehr Menschen er in seinen Bann schlägt. Aber es nützt nichts. Was da heranrollt, ist nicht länger aufzuhalten. Deshalb müssen wir mit der Musik anfangen. Obwohl es allerhand zu erzählen gäbe, über eine verschneite Metropole mitten im Nirgendwo des Mittleren Westens, über eine kleine Plattenfamilie namens Saddle Creek, über roten Wein und andere Drogen, über das Morbide und die Hoffnung, über den Weltschmerz eines Pubertierenden, über Politik und Popularität, über zeitloses Talent und reife Meisterschaft, über wahre Unabhängigkeit und echtes Genie, über Wahnsinn und Wahrheit – aber all das bliebe nur ein leeres Versprechen, wäre die Musik keine Offenbarung.

Denn heute werden auch in Deutschland gleich zwei Platten auf einmal veröffentlicht, der zeitlos zärtliche Folk von „I’m Wide Awake It’s Morning“ und der experimentelle Rock von „Digital Ashes In A Digital Urn“. Es klingt nach Größenwahn, ist aber Größe. Und so erhaben, dass diese Musik alles überstrahlen wird, was dieses Jahr sonst noch erscheint. Die Band heißt Bright Eyes und ist eigentlich keine Band, sondern nur Conor Oberst und eine stets wechselnde Crew seiner Freunde. Bright Eyes sollte besser nicht verwechselt werden mit der gleichnamigen Schnulze, die Mike Batt einmal für Art Garfunkel geschrieben hat.

Peinlicher wäre es nur noch, Conor Oberst mit dem anderen Wunderkind dieser Tage in einen Topf zu werfen, mit Adam Green. Der Unterschied zwischen den beiden jungen Musikern ist wichtig, weil wesenhaft. Adam Green – bekannt aus Bravo, bestaunt bei „Harald Schmidt“, bewundert bei Pro 7 und neuerdings verlegt bei Suhrkamp – sieht gut aus, singt souverän wie ein junger Frank Sinatra, zitiert sich quer durch die Musikgeschichte, zelebriert eine nonchalante Sinnverweigerung und montiert seine eingängigen Kompositionen zu postmodernen Pop-Puzzles, die nach drei Minuten gelöst sind, Altersempfehlung: von 8 bis 88. Dabei mag er noch so kalkuliert und provokant über Menstruation, Cunnilingus oder Sodomie singen – immer folgt die Funktion der Form, immer schwingt bei Adam Green ein cleveres Grinsen mit, ein Abwinken: „Ist doch alles nur Spaß!“. Conor Oberst? Er sei ihm im vergangenen Jahr einmal begegnet, meinte Green im taz-Gespräch, „aber wir hatten uns nicht viel zu sagen“.

Denn Conor Oberst ist alles andere als gefällig, clever, zugänglich, smart, ironisch oder spaßig. Dem amerikanischen Musikmagazin Filter gewährte er unlängst einen Einblick in seine von manisch-depressiven Wettern verwüstete Seelenlandschaft: „An guten Tagen begeistert mich das Leben, und ich will keine Sekunde davon verschwenden. Denn das ist das Leben, eine einzige Verschwendung. An schlechten Tagen aber entsetzt mich die Vergänglichkeit so sehr, dass ich wie gelähmt bin.“

Vielleicht beginnt er „I’m Wide Awake It’s Morning“ deshalb auch mit einer kleinen Geschichte über eine junge Frau auf dem Weg nach Hawaii, die gelangweilt einen Artikel überfliegt, „about a third world country that she couldn’t even pronounce the name of it“, als plötzlich die Triebwerke ausfallen und das Flugzeug abstürzen wird in den „largest ocean on planet earth“, um kurz vor dem Aufprall eine beschwingte Polka auf das vergeudete, das verschwendete Leben zu singen.

Das US-Magazin Newsweek war darüber so irritiert, dass es Oberst als „Rakete“ bezeichnete, „die außer Kontrolle geraten ist, mit Songs, die länger als sechs, acht, zehn Minuten dauern, als ob er selbst gar keinen Einfluss darauf hätte“. Wenn der Erzählfluss über seine Ufer tritt, sprengt sich die Form von selbst – und folgt der Funktion, das Leiden an der Leere so authentisch in Musik zu gießen, wie das so eindringlich zuletzt vielleicht einem Kurt Cobain gelungen ist.

Während aber Nirvana ihrer jugendlichen Wut auf die falschen Verlockungen der spätkapitalistischen Gesellschaft mit Gebrüll und wütendem Punk freien Lauf ließen, kleidet Conor Oberst seine verzweifelte Verachtung, sein melancholisches Leiden in trügerisch traditionelles Songwriting und singt seine giftigen Tiraden im Duett mit Country-Ikone Emmylou Harris, die seine Mutter sein könnte.

Anders als Nirvana, die flugs vom Establishment absorbiert wurden, haben sich Bright Eyes ihre Unabhängigkeit gewahrt, astronomische Angebote großer Plattenfirmen abgelehnt – und trotzdem mit gleich zwei Singles die ersten beiden Plätze der Hitparade des von ebenjenen Plattenfirmen dominierten Formatradios erobert.

Bei ihrem phänomenalen Siegeszug können sich Bright Eyes nicht nur auf eine wachsende Gemeinde hingebungsvoller Jünger verlassen, sondern auch auf die Bettwärme eines Labels namens Saddle Creek. Frühstarter Oberst, der mit 13 Jahren seinen ersten Song schrieb, gründete das Label in Omaha schon als Jugendlicher. Heute stellt es mit Bands wie Cursive oder The Faint nicht nur ein geschäftliches, sondern auch ein soziales Erfolgsmodell dar. Ein geglücktes Projekt, bei dem alle Musiker einander kennen, schätzen und fördern. Auch wenn manche Veröffentlichungen ökonomischer Unsinn sein sollten – wie „Digital Ashes In A Digital Urn“, die zweite Platte von Bright Eyes.

Hier verlässt Oberst den Pfad überlieferter US-Volksmusik endgültig, um sein Songwriting mit elektronischen Störgeräuschen, rückwärts laufenden Streichern, lodernden E-Gitarren oder Bläsersätzen zu würzen, die mit dem Geschrei eines Babys konkurrieren. Bei „Devil In The Details“ kippt seine ohnehin verletzlich brüchige Stimme in ein euphorisches Falsett, das auf elektrisierende Weise an den David Bowie der „Spiders From Mars“-Ära erinnert – ohne dass himmelhohes Jauchzen und tödliche Betrübnis als augenzwinkerndes Zitat goutiert werden könnten. Es ist echt.

Aber wir haben gelernt, dem angeblich Authentischen mit besonderem Misstrauen zu begegnen. Also blättern wir weiter, auch wenn die Triebwerke längst ausgefallen sind. Wir halten uns für abgeklärt und aufgeklärt, wo wir doch eigentlich nur versteinern. Wer wissen will, ob er schon verloren ist, sollte Bright Eyes hören – und dabei auf seine Nackenhaare achten.