In jeden Körper verliebt

Ihr, die ihr wisst, wie die Liebe ist: Barry Kosky inszeniert hinreißend komisch die „Hochzeit des Figaro“, Michael Thalheimer beengt eine „Katja Kabanova“. Ein Opernwochenende in Berlin mit Premieren rund um Verfehlungen und Verführungen

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Eng ist es im Schloss des Grafen Almaviva. Nicht schwül, wie so oft, aber so eng, dass die Stehlampe in Susannes Kammer schief steht, weil sie sonst nicht unter die Decke passt. An ein Bett ist da schon gar nicht zu denken, deswegen nimmt Figaro an seiner Susanne Maß. Arme, Hüften, Schenkel, Brüste. Brigitte Geller und Carsten Sabrowski machen daraus eine überwältigend fröhliche Szene kindlicher Lust am Körper. Sie hallt nach bis zum Ende, sie ist der Maßstab dieser schier endlosen Komödie der sexuellen Verwirrungen. In dieselbe enge Kammer passt auch mal der ganze Chor, die Körper sind es, die sich ständig aneinander reiben müssen, auch wenn die Seelen es nicht wollen.

Oder wollen sie es doch? Man kann die „Hochzeit des Figaro“ durchaus so lesen, wie Barry Kosky es versucht, nämlich nicht als Revolutionskomödie der Diener gegen den Adel, sondern als (zeitloses) Lehrstück über das Problem, den Sex mit den Gefühlen in Einklang zu bringen. Wahrscheinlich ist das fast unmöglich, selten jedoch kommt Mozarts kühl sezierendes, blanke Trivialität mit innigstem Ausdruck verschmelzendes Meisterwerk derart hinreißend komisch auf die Bühne wie hier. Das liegt daran, dass Kosky präzise die Mitte hält zwischen der Typenkomödie, der das Personal entstammt, und dem biedermeierlichen Rührstück, das vor allem in den großen Arien der Gräfin Almaviva aufzuklingen scheint. Beides steckt in diesem Werk des Übergangs, beides ist falsch für sich allein, aber wenn beides zusammenkommt, dann zündet Mozarts Genie.

Sie kommen zusammen, weil Kosky nie um Einfälle verlegen ist, die die Balance sinnfällig machen. Nichts ist ihm heilig. Der Graf (Tom Erik Lie) spielt Golf und bricht die Tür im Schlafzimmer der Gattin mit dem Schlagbohrer aus dem Baumarkt auf. Maria Bengtson muss die Klage der Gräfin im Kleiderschrank liegend singen, darunter schläft Cherubino schnarchend ein, die Frau, die einen Mann spielt, der eine Frau spielen soll: „Ihr, die ihr wisst, was die Liebe ist …“

Wissen wir es? Nein, wir wissen es nicht, unter Koskys Regie macht Stella Doufexis aus dieser Nebenrolle eine Schlüsselfigur: das schöne Kind, das sich in jeden Körper verliebt und noch nicht weiß, welches Geschlecht es selber hat. Hier, in der umfassenden, undefinierten Begierde liegt Mozarts Tiefendimension, nicht in der Konstruktion der ehelichen Treue. Um seine jüdische Herkunft in Erinnerung zu bringen, lässt Kosky die Heiraterei im dritten Akt als jüdische Hochzeit aufführen. Absurd genug wäre das auch ohne diesen ins Leere laufenden Scherz, denn am Ende kann kein Vertrag stehen, auch kein jüdischer. Kosky weiß es nur zu gut. Sein vierter Akt der Versöhnung ist gefüllt mit einer riesigen Pyramide frischer Äpfel, deren Duft das Parkett erfüllt. Hunderttausendfache Verführung im Garten Eden ist das letzte Wort.

Großes Theater ist das in jedem Fall – wenn auch noch nicht die ganz große Oper. Dafür reichen die beschränkten Bordmittel der Komischen Oper leider nicht aus. Zwar bringen die jungen Stimmen des Ensembles Mozart alle sehr schön zum Klingen, doch am Zusammenspiel mit dem von Kirill Petrenko straff, aber wenig sensibel geführten Orchester hapert es mitunter schon. Doch man verzeiht in dem rasenden Tempo dieser Aufführung Patzer gern – zumal am Tag zuvor die Staatsoper nebenan gezeigt hatte, wie man die große Oper auch verfehlen kann.

An der Stimme von Melanie Diener in der Titelrolle von Leos Janaceks „Katja Kabanova“ lag es gewiss nicht. Ihr Rollendebüt geriet zu einer Art Lehrstunde eines auf jede Nuance der Partitur achtenden, virtuos mit den Ausdrucksmitteln der Stimme spielenden Gesangs. Aber selbst diese Meisterleistung konnte die schiere Langeweile nicht vertreiben, die das lustlos und dumpf weit unter seinem Niveau musizierende Orchester und vor allem die Inszenierung von Michael Thalheimer verbreitete. Auf dem kriselnden Sprechtheater mag sein Minimalismus zurzeit interessant erscheinen, für den psychologischen Realismus eines Janacek ist er zu wenig.

Thalheimer hätte bei Melanie Diener ja hören können, was in dieser Frauenrolle steckt an Aufbegehren, Mut und – sexueller Gier. Aber er hielt sich lieber an die in jedem Opernführer nachzulesende Weisheit, dass Katja Kabanova von der Engstirnigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Tod getrieben werde. Das hat den Bühnenbildner Olaf Altman zu einer geblümten Wand inspiriert, die im Lauf der Aufführung die ganze Bühne verschließt. Enge also auch hier, aber nur aus Armut an Ideen.