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Archiv-Artikel

Netz zum Schutz von Illegalen

SOLIDARITÄT In Frankreich verstecken AktivistInnen Kinder von Illegalen und demonstrieren für die Rechte der Rechtlosen. Tausende ehemalige Papierlose verdanken ihr Aufenthaltsrecht diesem Engagement

Wenn irgendwo ein Härtefall bekannt wird, bildet sich oft noch am selben Tag ein Kollektiv

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Lasst Mohamed Allouche zu den Seinen zurückkehren“, steht auf dem gelben Transparent, das an diesem Freitagabend vor dem Rathaus von Montrouge am Südrand von Paris flattert. Daneben prangt das Logo des „Netzwerks Erziehung ohne Grenzen“ (RESF) – ein weißes Dreieck, in dessen Mitte ein Polizist ein Kind an einer Kette abführt. Seit Staatspräsident Nicolas Sarkozy mit 25.000 Abschiebungen pro Jahr ein Plansoll für seinen Minister für Einwanderung und nationale Identität fixiert hat, nehmen die persönlichen Katastrophen für Einwanderer und Einwanderinnen zu. Mit dem Netzwerk versuchen Eltern, LehrerInnen und GewerkschafterInnen, die Familien von Schulkindern vor Abschiebung zu schützen. Wenn irgendwo ein Härtefall bekannt wird, bildet sich oft noch am selben Tag ein neues Kollektiv. Seine Mitglieder schreiben Petitionen an PolitikerInnen und BeamtInnen, demonstrieren vor Gefängnissen, Gerichten und Flughäfen und informieren die Medien. Tausende Einwanderer und Einwanderinnen verdanken ihre Aufenthaltsgenehmigungen diesem Engagement.

Mohamed Allouche aber konnte das Netzwerk zumindest vorläufig nicht mehr schützen: Eine Woche zuvor hat die Polizei ihn nach Tunesien abgeschoben. Seine Frau, die taubstumme Nadia, und sein elfjähriger Sohn Naoufel sind allein zurückgeblieben, und deshalb kämpfen die RESF-Mitglieder nun für Allouches Rückkehr. Der Präfekt wollte in dem Abgeschobenen nur einen Papierlosen sehen, der schwarzarbeite, sich nicht um seinen Sohn kümmere und mit Drogen zu tun habe. Doch in der Grundschule Rabelais hinter dem Rathaus von Montrouge kennen LehrerInnen und Eltern ihn als engagierten Vater, der abends regelmäßig den Jungen abgeholt hat. Den Drogenvorwurf halten die Eltern für vorgeschoben. Und selbst wenn er stimmen würde, sagen sie, dann gehöre Allouche nicht abgeschoben, sondern vor ein französisches Gericht.

An diesem Freitagabend findet die erste Demonstration für Allouche statt. Rund 100 Menschen, darunter viele junge Mütter, aber auch einige Väter, sind gekommen. Bis zur Rückkehr von Allouche aus Tunesien wollen sie sich jeden Freitag vor dem Rathaus versammeln. „Sie zerstören eine integrierte Familie“, sagt Farida Bondeau, eine Krankenschwester, deren Kinder die Rabelais-Schule besuchen. „Nicht in unserem Namen“, schimpft Jacqueline Goldberger-Guillemot, eine 70-jährige Rentnerin mit knallrotem Haar. Seit sie von der neusten Abschiebung erfahren hat, sammelt sie Unterschriften: „Ich will kein Magengeschwür kriegen.“ Aus einer Nachbargemeinde ist an diesem Abend ein junger Malier gekommen. Er will seine Solidarität mit einem Mann zeigen, den er gar nicht kennt. „Vor zwei Jahren war ich selbst in Abschiebehaft“, erzählt Bokara Kamissoko mit leiser Stimme, „ohne das RESF hätte ich nicht zu Frau und Kindern zurückkehren können.“

Den Erfolg des RESF, das heute in jedem französischen Département vertreten ist, erklärt Richard Moyon mit der Reife der französischen Gesellschaft. Die Elite habe diese Entwicklung unterschätzt „wie in den USA, vor der Wahl Obamas“. Der 60-jährige Französischlehrer hat das Netzwerk im Juni 2004 mitgegründet, „weil ein Lehrer nicht von Menschenrechten und Gleichheit reden und zugleich seine ausländischen SchülerInnen im Stich lassen kann, wenn ihnen die Abschiebung droht“. Heute verbringt er immer mehr Zeit mit dem Engagement für das RESF. Vier Lehrergewerkschaften unterstützen ihn dabei. Er berät neue lokale Kollektive, die in aller Eile Petitionen schreiben und Demonstrationen organisieren. Und er hält den Kontakt mit der Regierung.

Richard Moyon hat die Erfahrung gemacht, dass Verhandlungen mit dem rechten Hardliner und früheren Einwanderungsminister Brice Hortefeux einfacher waren als mit dessen Nachfolger Eric Besson. So hatte Hortefeux zwei Stunden nach einer Pressekonferenz des RESF die Ausweisung einer Kamerunerin zurückgenommen. Sie sollte per Flugzeug nach Kamerun verbracht werden, weil ihr in Frankreich geborenes Baby gestorben war und sie deshalb ihr Aufenthaltsrecht verloren hatte. Aber seit Exsozialdemokrat Besson Anfang des Jahres das Ministerium übernahm, ist der Ton härter und kompromissloser geworden. Im südfranzösischen Nîmes kam ein vier Monate altes Baby mit seinen Eltern hinter Gitter, weil die russisch-aserbaidschanische Familie keine Papiere hatte. „Besson will sich als Kerl beweisen“, vermutet Moyon.

In der Einwanderungspolitik à la Sarkozy stehen Einzelfallregelungen im Mittelpunkt. Mit Druck und Hartnäckigkeit kann das RESF in solchen Einzelfällen zwar oft helfen, doch langfristig geht es dem Netzwerk um anderes. „Wir wollen die Mentalitäten ändern“, sagt RESF-Mitglied Muriel Roger vor dem Rathaus von Montrouge: „Wir wollen eine andere Politik. Und ein Ende der Repression.“

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