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Archiv-Artikel

„Psychiatrie muss Bürger für sich gewinnen“

Gestern feierte die neue Dortmunder Forensik ihr Richtfest. Das Herner St. Marien-Hospital verzichtet auf geschlossene psychiatrische Stationen. Der Leiter Matthias Krisor erklärt, warum die Bürger damit einverstanden sind

taz: Psychiatrie mit offenen Türen – wie haben Sie das bewerkstelligt?Matthias Krisor: Manche unserer Patienten kommen ja nicht freiwillig zur Behandlung. Trotzdem bleiben sie im Haus. Dazu ist natürlich eine entsprechend intensive therapeutische Betreuung nötig. Da kann auch mal über Tage eine “Sitzwache“ erforderlich sein. Und wir müssen uns um die Bedürfnisse unserer Patienten kümmern. Vor kurzem haben wir einen passionierten Jogger behandelt. Der machte dann zwei Mal am Tag in Begleitung unseres Sporttherapeuten seinen Waldlauf. Meine Kondition hätte für diese Art von Betreuung nicht gereicht.

Wie hat die Bevölkerung im Umfeld Ihrer Klinik reagiert

Wir haben das Konzept einer Psychiatrie, die auf Kontakt, Begegnung und Akzeptanz fußt, in der Öffentlichkeit, in den lokalen und überregionalen Medien, offensiv vertreten. So haben wir viele Mitstreiter gefunden.

Haben Sie Kontakt zu denen, die jetzt in Herne die Forensische Klinik planen?

Relativ wenig. Die Landesregierung verordnete der Stadt ihre Pläne. Plötzlich las man in der Zeitung, dass hier eine große forensische Klinik entstehen wird. Diese Vorgehensweise ist wenig sinnvoll. Ich kann dem Bürger Psychiatrie nicht verordnen, ich muß ihn dafür gewinnen.

Können Ihre Erfahrungen mit den offenen Türen auf die Forensik übertragen werden?

Teilweise. Natürlich gibt es andere rechtliche Rahmenbedingungen. Aber auch ein Patient, der durch eine Zwangseinweisung bei uns aufgenommen wird, kann durch seine Erkrankung für sich oder andere eine Gefahr darstellen. Der Schutz der Patienten und der Anwohner hat höchste Priorität. Aber es gibt ja nicht nur bedrohliche Situationen. In unserer Klinik gibt es seit etwa 15 Jahren keine Beschäftigungstherapie mehr. Wir haben diese Angebote ausgelagert. Die hiesige VHS ist Veranstalter. Da machen Bürger aus dem Stadtteil gemeinsam mit Patienten Seidenmalkurse.

Wäre so etwas auch in einer forensischen Klinik denkbar?

Warum nicht? Die Forensische Abteilung des Zentrums für Psychiatrie in Reichenau am Bodensee arbeitet ähnlich wie wir.

Die Wahrscheinlichkeit, als Kind einen tödlichen Verkehrsunfall zu erleiden ist etwa 100 mal größer als von einem Sexualstraftäter ermordet zu werden. Wie erklären Sie sich den Bürgerprotest?

Solche Statistiken beruhigen nicht, wenn man in Nachbarschaft zu einer forensischen Klinik lebt. Es gab Vorkommnisse in der Forensik, die bei einer professionellen Behandlung hätten vermieden werden können. Ein begleitender Pfleger darf keine Zigarettenpause machen, sondern muss den gefährlichen forensischen Patienten lückenlos beobachten.

Ist also der Protest gegen forensische Kliniken nachvollziehbar?

Es werden leider auch viele Projektionen auf den forensischen Patienten geworfen. Da gibt es eigene, mühsam abgewehrte Wünsche. Je weniger ich mir über diese im klaren bin, um so mehr muss ich den anderen dämonisieren. Bei einer Demo gegen die Forensik in Herne stand auf einem Transparent: „Wo geht es hier zum Frischfleisch?“ Das sind doch schwerste eigene Störungen, die man da offen demonstrierte.

INTERVIEW: LUTZ DEBUS