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Archiv-Artikel

Kreisen um die Vergangenheit

Mit dem Sechstagerennen kehrt ab morgen wieder der blanke Anachronismus im Velodrom ein: Sportpalastwalzer, deutsche Schlager und abgetakelte Stars. Dabei brachte der Sport einst echte Helden hervor, denn früher wurde ohne Pause gefahren

VON ANDREAS RÜTTENAUER

Ab morgen drehen sie wieder Runden. Morgen zieht wieder die Vergangenheit in die futuristische Halle des Velodroms an der Landsberger Allee ein. Jedes Jahr aufs Neue wird der Mythos Sixdays strapaziert – und jedes Jahr aufs Neue wird dem Publikum Althergebrachtes serviert. Wer mit dem Sportpalastwalzer, deutschen Stimmungsschlagern und abgetakelten „Weltstars“ wie Tony Christie, dessen Auftritt für Samstag angekündigt ist, nichts anfangen kann, wird sich schwer tun, zu verstehen, warum ausgerechnet die Spezies des Sechstagerennens zu den Profiveranstaltungen gehört, die eigentlich immer Konjunktur haben. Auch in diesem Jahr werden 70.000 Zuschauer ins Velodrom strömen, wenn das Hochamt der guten alten Radsportzeit zelebriert wird.

Dabei hat es lange gedauert, bis sich die Sixdays in Europa durchgesetzt haben. In den USA gebe es Radrennen, so wurde um 1900 berichtet, bei denen die Fahrer fast eine ganze Woche lang im Kreis herum fuhren. Für Europäer damals noch unvorstellbar. Das Berliner Sechstagerennen von 1909 war das erste auf kontinentaleuropäischem Boden.

Die Rennen auf den Winterbahnen, bei denen sich die Sprinter, die zu jener Zeit noch Flieger hießen, gegenseitig über die Bahnen jagten, waren schon lange äußerst populär. Die besten Profis verdienten richtig gutes Geld. Doch Sechstagerennen galten lange Zeit als Spinnerei. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, wie das möglich sein sollte, dass zwei Fahrer sich sechs Tage über eine kleine Holzbahn jagten. Pausen gab es nämlich zu jener Zeit noch nicht. Es wurde durchgefahren: Ein Fahrer musste immer auf der Bahn in die Pedale treten.

Heute sitzen die Profis etwa 30 Stunden in sechs Tagen auf dem Sattel – auch keine schlechte Leistung. Die Zweierteams, die sich auf der Bahn gegenseitig ablösen und um Rundengewinne bei einer so genannten „Jagd“ kämpfen, bieten ansehnlichen Radsport. Der wird auch bei Weltcupveranstaltungen auf den Holzbahnen dieser Welt geboten. Da verlieren sich allerdings selten mehr als ein paar hundert Fans am Bahnrand. Ist also wirklich das Showprogramm und die Gastronomie für den Erfolg der Veranstaltung verantwortlich: Schultheiss und Erzgebirgsgedudel von „De Randfichten“?

Die großen Stars des Radsports sind Straßenfahrer. Sie scheuen die Hallensaison. Das Rundendrehen auf dem Oval stört die Vorbereitung auf die Sommerrennen. Auch die Nikotinschwaden aus den Gastrobereichen sind gefürchtet. Als der Deutsche Walter Rütt in New York 1907 die Sixdays gewann, beklagte auch er sich schon über schlechte Luft und Nikotinschwaden in der Halle. „Eine Staubbrille habe ich nur abends getragen, wenn im Velodrom viel geraucht wurde“, meinte Rütt dazu. Es waren harte Zeiten. „Man lebt eigentlich nur mit der Hilfe des Managers, der einem das Essen in den Mund steckt, der einen wäscht, kämmt umzieht und badet“, berichtete Rütt.

Derartige Heldengeschichten werden heute nicht mehr produziert. Die Winterbahnstars von heute wie die derzeitigen Seriensieger Robert Slippens und Danny Stam aus Holland kennt kaum jemand. Auch die einst so populären Steher dürfen sich bei Sixdays präsentieren. Ins Gedächtnis der Sportchronisten werden sie sich wohl genauso wenig einbrennen wie die Gewinner. Wer weiß schon, dass im vergangenen Jahr Robert Bartko und Guido Fulst das Siegerduo bildeten?

Aber es geht eben nicht nur um Sport. Auch andere Fragen werden verhandelt. Wie hieß noch gleich der große Hit der Randfichten? „Lebt denn dr alte Holzmichel noch?“ Die Antwort wird im weiteren Liedtext geliefert: „Er lebt noch, lebt noch, stirbt nicht.“ Ein Phänomen – wie die Sixdays.